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Ein Merkmal, was immer wieder mit den Themen Hochsensibilität und Hochbegabung in Verbindung gebracht wird, ist der Perfektionismus. Die Ansprüche an sich selbst sind überaus hoch, Fehler können nicht akzeptiert werden. Nichts ist gut, solange es nicht “perfekt” ist. Entweder ganz oder gar nicht.

Das führt nicht selten dazu, dass Arbeiten gar nicht erst angegangen werden. Im Kopf existiert bereits das perfekte Ergebnis, doch mit dem Wissen, dass das Produkt niemals oder nur mit extrem viel Aufwand in diesem Maße erschaffen werden kann.

Zu hohe Ansprüche?

Viele Hochbegabte werden mit der Aussage konfrontiert, dass ihre Ansprüche schlicht zu hoch seien. Das mag auf viele Menschen so wirken, doch tatsächlich sind Hochbegabte in der Lage Leistungen zu vollbringen, die für die meisten Menschen unerreichbar erscheinen.

Oftmals ist genau das ein Problem, weil der Hochbegabte in seinem Umfeld niemanden hat, an dem er sich messen kann, da seine Leistungsfähigkeit weit außerhalb der Norm liegt. So bleibt ihm dann nur der Vergleich mit den eigenen Idealen, der Vorstellung von Perfektion, doch ohne Gefühl dafür, ob und wie das gewünschte Ergebnis erreichbar ist. 

Die Ideale sollten nicht heruntergeschraubt werden. Ideale sind der Wachstumsmotor für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Wir brauchen etwas, nach dem wir streben können. Doch wichtig dabei ist, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Das führt uns zum ersten Punkt, wie mit dem Problem umgegangen werden kann: Akzeptieren, dass uns Grenzen gesetzt sind und nicht alles bis zur Vollständigkeit ausgetüftelt werden kann. 

Wenn alles 100 % sein muss

In vielen Bereichen ist es wichtig und erforderlich 100 % zu bringen, wie zum Beispiel bei einem Chirurg, der einem Patienten ein neues Herz einsetzt. Dort ist Perfektionismus absolut angebracht. Doch allzu oft kommt es zu der unrealistischen Forderung an sich selbst, in ALLEN Situationen perfekt sein zu müssen. Die Studienarbeit muss perfekt sein, ebenso aber auch die Stiefmütterchen im Vorgarten. Nicht, dass jemand im Vorbeigehen das Unkraut entdecken könnte.

Auch Hochbegabte haben Leistungsgrenzen

Der Tag hat nur 24 Stunden. Egal, wie intelligent jemand ist, seine Möglichkeiten sind begrenzt. Zeit, Motivation, Energie: nichts davon steht uns unbegrenzt zur Verfügung. Darum ist es so wichtig, seine eigenen Grenzen zu kennen und einzuhalten.

Leistungen anerkennen, auch wenn sie leicht fallen

Viele Hochbegabte neigen dazu, dass sie den Wert dessen nicht sehen, was sie leisten, weil es ihnen so leicht fällt. In unserer Gesellschaft gilt Anstrengung als tugendhaft, daher zählen nur die Ergebnisse, für die man kämpfen musste.

Das ist ganz besonders für Hochbegabte kritisch, da ihnen die Möglichkeit der Spiegelung fehlt – sie finden selten jemanden, an dem sie sich messen können. So orientieren sie sich an ihrer eigenen Erschöpfung und arbeiten, bis sie wirklich nicht mehr können.

Ein Ergebnis ist jedoch nicht schlechter oder weniger wert, nur weil die Umsetzung leicht fiel. Erlaube dir, deine persönlichen Talente und Fähigkeiten anzuerkennen. Wenn du weniger Zeit und Energie investieren musst, so freue dich über die zusätzliche Freizeit, die du mit anderen Dingen füllen kannst, die dir Freude bereiten. Manche haben diesbezüglich allerdings regelrechte Schuldgefühle. Doch die sind unnötig. In der Natur hat alles seinen Sinn. Du wurdest mit dieser Begabung beschenkt – das ist einfach so. Und das ist in Ordnung.

Umgang mit Perfektionismus

Wir unterscheiden zwischen zwei Arten des Perfektionismus: 

1. Der “maladaptive Perfektionismus”, der Energie raubt und zum Burnout führen kann 

2. der Perfektionismus, der aus der Freude an einer Sache heraus betrieben wird, der sogenannte “adaptive Perfektionismus”.

1. Maladaptiver Perfektionismus

Für diese Art des Perfektionismus ist ein Gefühl vorherrschend: Angst. Angst einen Fehler zu machen, Angst vor Kritik. Im Grunde ist es die Angst, nicht gut genug zu sein. Der Versuch der Legitimierung der eigenen Existenz durch seine Leistungsfähigkeit. Die eigene Leistung wird direkt mit dem Wert als Person verknüpft.

Gerade hochsensible und hochbegabte Menschen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl neigen schnell zu dieser Form des Perfektionismus. Es wird aus einer extrinsischen Motivation heraus versucht, ein „perfektes“ Ergebnis zu erzielen. Ist es nicht perfekt, ist es nichts. Ist es nicht perfekt, dann bin ich ein Versager. „Gute“ Ergebnisse werden kaum gewürdigt oder sogar abgewertet.

Diese Einstellung zieht sich oft durch mehrere Lebensbereiche. Das Studium muss perfekt sein, die Arbeit muss perfekt sein, der Haushalt muss perfekt sein, die Frisur perfekt sitzen und schlussendlich muss auch die Beziehung perfekt sein – wie auch immer das aussehen soll.

Und dabei kreist der Betroffene immer angstvoll um sich selbst mit der Frage: „Wie viel Selbstbewusstsein darf ich mir aufgrund meiner Leistungsfähigkeit gönnen?“

2. Adaptiver Perfektionismus

Ganz anders sieht es aus mit dem konstruktiven Umgang mit seinem Perfektionismus. Hier geht es nicht darum, mit seiner Leistung sich selbst als Person aufzuwerten. Das Ich tritt in den Hintergrund, stattdessen wird aus einer intrinsischen Motivation (zu den Themen intrinsische und extrinsische Motivation habe ich einen Artikel geschrieben *Klick*) heraus an einer Sache gearbeitet, bis sie (soweit möglich) dem Ideal entspricht. Es ist die Freude an der Perfektion, die Freude an der Vollkommenheit. Das Projekt wurde sich “zu eigen” gemacht und repräsentiert auf eine natürliche Weise einen Teil des Selbst. Statt um das eigene Ich kreisen die Gedanken um die Sache: “Wie schaffe ich es, dass es richtig gut wird?”

Statt sich von Fehlern unterkriegen zu lassen, nutzen adaptive Perfektionisten Misserfolge als Fehlerquelle. Ihnen bringt es Freude, sich in Herausforderungen zu stürzen und sind zuversichtlicher, was ihre Erfolgswahrscheinlichkeit angeht. Sie sind insgesamt stabiler, der Selbstwert weniger stark leistungsabhängig. 

Wer sagt, was gut ist?

In einer Welt, in der wir bereits im Kindesalter gelernt haben, dass es wichtiger ist, für andere Menschen Leistungen zu bringen und in der uns gesagt wird, unsere eigenen Interessen und Projekte seien weniger wichtig, nimmt der angsterfüllte Perfektionismus Überhand. Die eigene Wahrheit verliert immer mehr an Bedeutung.

Wir müssen erst wieder lernen, aus einem eigenen Bedürfnis heraus Leistungen zu vollbringen, die wir als Expression unseres Selbst erleben. In der schon die Phase der Herstellung eine solche Freude bereitet, dass das Ergebnis fast schon in den Hintergrund tritt.

Doch in einer Welt, in der wir mit unserer Leistung unser Leben finanzieren, ist es schwierig von seinen Ängsten abzulassen. Hier hilft nur eines: Schritt für Schritt Selbstvertrauen aufbauen. Vertrauen in die eigene Persönlichkeit, die eigenen Fähigkeiten und schlussendlich das Vertrauen in die eigene Wahrheit.

Denn Vertrauen ist der Antagonist der Angst.


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