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Underachievement

Um eines vorweg zu nehmen: Einer der häufigsten Gründe für die Entstehung von Underachievement hochbegabter Personen besteht in lang andauernder Unterforderung. Die meisten Underachiever verfügen über ein sehr ungünstiges Selbstkonzept, in dem sie sich als „fehlerhaft“ betrachten, oft wird diese Zuschreibung von dem sozialen Umfeld (aus Unwissenheit) unterstützt. Doch ist das von der Wahrheit weit entfernt. Hochbegabte Menschen benötigen die passenden Umweltbedingungen, um ihr Potenzial in Leistung umzusetzen. Werden sie nicht richtig gefördert oder gar in ihrer Entwicklung gehemmt, können sie ihr Potenzial nicht entfalten.

Was ist Underachievement?

Von Underachievement kann gesprochen werden, wenn die gezeigte Leistung eines Menschen geringer ausfällt, als man sie aufgrund des intellektuellen Potenzials erwarten könnte. Im Zeugnis steht dann nicht selten „sie/er könnte sehr viel mehr leisten“, was in der Vergangenheit und auch heute noch häufig dazu führt, dass die Betroffenen schlicht für faul gehalten werden. Doch meist steckt ein anderes Problem dahinter, wenn sich Underachievement bereits manifestiert hat.

Arbeit im Flow als Optimalzustand

Viele Hochbegabte wählen am liebsten selbst, mit welchen Aufgaben sie sich befassen und welchen Schwierigkeitsgrad diese haben. Mit dieser Strategie kommen sie in einen Zustand, der nach dem Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet wird. In diesem Zustand wird eine völlige Versunkenheit, wenn nicht sogar Verschmelzung mit dem Lerngegenstand/der Tätigkeit erlebt. Man muss sich nicht willentlich konzentrieren, die Konzentration kommt wie von selbst. Trotz voller Kapazitätsauslastung wird die Tätigkeit als kontrollierbar erlebt, es herrscht Ordnung im Bewusstsein. Die Beschäftigung mit dem Thema bereitet einem Freude, die Umwelt wird vergessen, manchmal sogar das Essen und Schlafen.

Die meisten Hochbegabten kennen das Arbeiten im Flow, doch einigen gelingt es nicht, diesen Zustand in der Schul- und Arbeitswelt mit vorgegebenen Aufgaben zu erreichen. Denn dafür braucht es die Balance zwischen der Fähigkeit auf hohem Niveau und der gestellten Anforderung, die allerdings zu niedrig liegt.

Optimale Anforderung

Hochbegabte lernen schneller und anders, als ihre nicht hochbegabten Mitschüler. Sie benötigen wenig bis gar keine Wiederholung, denken im gesamtheitlichen Kontext und weniger Schritt-für-Schritt, wie der Lernstoff oft vermittelt wird. Der Stoff wird verstanden, lange bevor die Mitschüler mitziehen, eine individuelle Förderung bleibt oft aus. Der Hochbegabte langweilt sich.

Spirale der Enttäuschung

Doch sah die Erwartungshaltung vor Schuleintritt ganz anders aus: Welches Kind freut sich nicht auf die Schule? Ganz besonders die begabten, die von Natur aus durch ihre enorme Wissbegier auffallen, stellen sich die Schule als Tempel der Wissenschaften vor, in dem sie ungehindert ihre Interessen entfalten dürfen. Oft sind das die Kinder, die bereits vor der Schule Lesen und Rechnen gelernt haben, ohne, dass sie jemand dazu motivieren musste. Wahrscheinlich haben sie schon einige Spezialinteressen, denen sie in ihrer Freizeit nachgehen und über die sie mehr wissen, als die meisten Erwachsenen

Diese begabten Kinder kommen nun in die Schule und erleben dort recht schnell, dass sie den Unterrichtsstoff bereits beherrschen oder neue Themen weit schneller begreifen als ihre Mitschüler. Sie fangen an, sich zu langweilen. Die Zeit, in der sie sonst ungehindert ihrer Neugier folgen konnten, wird damit verbracht, zu warten, still zu sitzen, bis die anderen auch so weit sind. Sie bemerken einen Konflikt zwischen ihrem Wissensdurst, ihrer (natürlichen) Anstrengungsbereitschaft und der Forderung der Lehrkörper, sich dem Lehrtempo und den Mitschülern anzupassen (hierzu sei angemerkt: Oftmals finden Hochbegabte auch etwas günstigere Lernsituationen vor, in denen sie durch die intensive Beschäftigung mit dem Unterrichtsstoff gute oder sehr gute Noten erzielen. Das ist toll! Doch oft erleben sie, dass sie gerade in ihren Hochleistungsphasen seitens der Lehrkraft gebremst werden: „damit die anderen auch noch eine Chance haben“. Das verdammt sie zum Zeittotschlagen).

Nicht selten führt diese Unterforderung nachhaltig zu einem Einstieg ins Underachievement. Durch die ständige Frustration der eigenen Leistungsbereitschaft, der ständigen Langeweile und des „Nicht-gesehen-werdens“ können Verhaltensauffälligkeiten auftreten, wie z. B. störendes Verhalten im Unterricht. Unsichtbar für die Bezugspersonen, entwickelt sich bei einigen eine äußere Anpassung bei innerer Unzufriedenheit, die sich dann durch psychosomatische Störungen wie Bauch- und Kopfschmerzen zeigen kann. Häufig zeigt sich auch ein sozialer Rückzug, mit der Überzeugung, von niemandem gemocht zu werden. Kommt es schon sehr früh zu einem Underachievement, können durch den daraus entstandenen Motivationsmangel keine Arbeits- und Lerntechniken erlernt werden, was im späteren Verlauf der Schulzeit für Probleme sorgen kann.

Keine Herausforderung – keine Belohnung

Die Aufgaben werden als zu leicht erlebt, es stellt sich für die begabte Person nur bedingt ein Belohnungseffekt ein. Es kann keine Motivation aufgebaut werden, die Tätigkeit wird als sinnlos, die angeordneten Wiederholungen schlicht als repetitiv erlebt. Hochbegabte bevorzugen das „produzierende“ Denken gegenüber dem meist geforderten „reproduzierenden“ Denken. Sie wollen selbst tätig werden, selbst Lösungswege ergründen, dabei auch kreativ werden. Je komplexer, desto besser.

Doch stattdessen finden sie meist zu einfache Aufgaben vor – und davon viel zu viele. Die begabte Person muss sich nicht oder nur kaum anstrengen, um zu der Lösung zu gelangen. Lob und Anerkennung für die Leistung mögen anfangs noch Freude erwecken, der Schüler lernt so jedoch nicht, dass es auch Aufgaben gibt, für die er sich anstrengen muss. Er kann alles auf Anhieb, erlebt keine Herausforderungen. Der Schulalltag besteht meist aus Warten, Tagträumen, den Klassenclown spielen oder sonstigen Tätigkeiten, welche die als schmerzhaft erlebte Langeweile lindern können. Auf Dauer verliert der begabte Schüler die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und zu belasten. Selbst ehemals als interessant erlebte Problemstellungen erzeugen Widerwillen. Ein enormer Motivationsschwund stellt sich ein.
Anstatt die benötigte Anstrengungsbereitschaft zu erwerben, lernt er in der Schule, die permanent zu leichten Aufgaben zu erdulden. Der begabte Schüler lernt nicht, wie man ein schwieriges Problem löst und kann seine eigene Leistungsfähigkeit nicht kennenlernen. Sein Selbstkonzept leidet.

Das kommt häufig in der Oberstufe, spätestens im Studium auf ihn zurück. Hier merkt er auf einmal, dass die bislang eingesetzte Strategie nur noch bedingt funktioniert. Häufig kommt aus dem Umfeld dann bereits die negative Rückmeldung: Er sei doch nur zu faul, müsse sich einfach mal auf den Hosenboden setzen und den Stoff pauken.
Doch so einfach ist es nicht. Den Underachiever trifft keine Schuld für seine Minderleistung. Durch die unpassenden Umweltbedingungen konnte er seine Leistungsfähigkeit nicht hinreichend entwickeln – das meiste Leid trägt dabei er selbst!

Das Selbstkonzept des Underachievers

Obwohl in frühen Schuljahren die Leistungsfähigkeit meist offensichtlich war, halten sich begabte Underachiever nach Eintreten der Minderleistung für unzureichend. Sie verstehen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihre Minderleistung nichts damit zu tun hat, dass sie nicht „in Ordnung“ sind, sondern dass sie in ihrer Entwicklung unzureichend gefördert, wenn nicht sogar gehemmt wurden. Damit verbunden ist oft auch ein sozialer Rückzug, die betroffene Person kapselt sich ab in sich selbst, teilweise kann es sogar zu sozialen Ängsten kommen. Durch das geringe Selbstvertrauen ist die Person häufig davon überzeugt, dass auch niemand anderes sie mögen kann. Gegenüber Zuneigung ist sie misstrauisch und abweisend. Doch genau aufgrund dieses Verhaltens bestätigt sich die Befürchtung. Typische Sätze eines Underachievers1:

– „ich schäme mich meinetwegen“

– „ich wäre lieber jemand anders“

– „ich bin ein Versager“

– „warum sollte ich stolz auf mich sein“

– „ich habe Angst, etwas falsch zu machen“

– „ich bin oft so verwirrt von einer Frage, dass mir die Antwort nicht einfällt“

– „ich mache Fehler, wenn ich aufgeregt bin“

– „es interessiert sich eh niemand für mich“

Es mangelt ihnen an sozialer Anerkennung, sie fühlen sich nicht gesehen als die Person, die sie eigentlich sind. Das Selbstwertgefühl ist meist gering, häufig gesellen sich noch soziale und leistungsbezogene Ängste hinzu, die dann wiederum die Leistungserbringung stark erschweren. Oft sprechen sie sehr geringschätzig von sich selbst

“Ich habe einfach nur Glück gehabt”

Viele Underachiever haben ein Problem mit der Zuschreibung von Erfolg und Misserfolg auf die eigenen Fähigkeiten, auf die Aufgabenschwierigkeit und Anstrengung und auf die Faktoren wie Glück, Pech oder Zufall.

Es ist günstig, Erfolg auf zeitstabile Faktoren wie die Fähigkeit und Aufgabenschwierigkeit zurückzuführen, während Misserfolg eher mit Zufall/Pech (ggf. auch Anstrengung) verknüpft werden sollte, um den Selbstwert zu schützen.

Bei Underachievern ist es jedoch genau umgekehrt. Erfolg wird auf Glück zurückgeführt, Misserfolg hingegen auf die eigenen Fähigkeiten. Wird diese Einstellung zu sich selbst dann auch von Lehrern und Eltern verstärkt, kann kaum ein günstiges Verhältnis zur Leistungserbringung aufgebaut werden. So entstehen enorme Ängste vor Misserfolgen. Der Underachiever wird komplett handlungsunfähig und meidet alles, was irgendwie mit Anstrengung zu tun hat, damit sein Selbstwert nicht noch mehr leiden muss. Kommt er doch in eine Situation, wo er Leistungen erbringen muss, wird seine Einstellung nicht selten zur „self fulfilling prophecy“ – der selbsterfüllenden Prophezeiung. Er strengt sich gar nicht erst an, erlebt einen Misserfolg, kann ihn aber sich aber zumindest sagen: „Ich habe ja nur deswegen keinen Erfolg, weil ich mich nicht angestrengt habe“, er habe ja schlicht keine Lust oder Zeit gehabt.

Übrigens basiert das sogenannte Hochstapler-Phänomen (bei dem der Betroffene seine eigenen Leistungen nicht anerkennen kann, der in ständiger Angst lebt, die anderen könnten herausfinden, dass er eigentlich gar nichts kann – trotz offensichtlicher Erfolge), ebenfalls auf einer ungünstigen Zuschreibung von Erfolg und Misserfolg. Hierauf gehe ich aber zu einem späteren Zeitpunkt in einem weiteren Blogartikel ein.

Anstrengungsbereitschaft entwickeln

Hochbegabte brauchen meist sehr wenig oder keine Wiederholung. Es wäre an dieser Stelle besser, man gäbe ihnen in der Zeit, in der die Mitschüler mit Lernen und Üben beschäftigt sind, eine komplexe Aufgabe, für die sie selbstständig recherchieren, ausprobieren und neue Lösungswege ergründen können.

Haben sie eine solche Aufgabe geschafft, so können sie stolz auf sich sein. Sie bekommen Lob und Anerkennung für ihre Leistungen seitens der Eltern und Lehrpersonen. Dieses Erlebnis bleibt im Gedächtnis hängen, bei der nächsten komplexen Aufgabenstellung kann der Hochbegabte mit einer positiven Erwartungshaltung tätig werden, seine Anstrengungsbereitschaft wächst.

Wenn sich aber erst einmal ein Underachievement mit all seinen Auswirkungen eingestellt hat, ist es für die Person enorm schwierig, wieder ein günstiges Verhältnis zu seiner Leistungsfähigkeit aufzubauen. Hier braucht es viel Geduld, Beschäftigung mit selbstgewählten Interessen, viel Anerkennung und Ermunterung, während sich mit Kritik zurückgehalten werden (meistens sind die Hochbegabten selbst ihre schärfsten Kritiker) und Bewertungen neutral formuliert werden sollten. Bezugspersonen sollten nicht die Befürchtung ausstrahlen, dass dass der begabte Underachiever versagen könnte, sondern zeigen: „Wir glauben an dich!“

Keinesfalls sollten zu leichte Aufgaben gewählt werden – hier käme der Underachiever wieder in die Verlegenheit, dass er auf seine erbrachten Leistungen nicht stolz sein könnte. Die Aufgaben müssen komplex, schwierig genug, aber (mit Anstrengung) lösbar sein, sodass sich der Belohnungseffekt einstellen kann.

Die entstandenen Narben und Begleiterscheinungen müssen heilen, wenn aus der Minderleistung eine – dem Hochbegabten entsprechende – Hochleistung werden soll. Hier ist es sehr wichtig, den Gesamtkontext des Phänomens Underachievement zu betrachten und nicht nur den Leistungsaspekt zu sehen. Dies kann mitunter Wochen, Monate oder auch Jahre dauern. Eine begleitende Unterstützung einer Fachperson für Hochbegabung kann dabei sehr hilfreich sein

Fazit

Hochbegabung braucht die passenden Umweltbedingungen, um sich in Performanz zu zeigen. Bereits manifestiertes Underachievement zeigt sich nicht nur durch eine geringere Leistung, als das Potenzial vermuten lässt, sondern häufig in einem verminderten Selbstwertgefühl, was dann wiederum auch in alle anderen Lebensbereiche ausstrahlt.

Literatur zur Blogserie Underachievement: “Klick

1 Lehwald, Gerhardt: “Motivation trifft Begabung”, Hogrefe, Bern 2017, S. 82