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Symbolbild für hochsensible Männer

In den Beratungen fällt immer wieder auf, wie viel leichter es Frauen fällt, sich mit dem Konstrukt Hochsensibilität zu identifizieren. Hochsensible Männer hingegen haben dabei ihre Schwierigkeiten und schneiden zudem bei HSP-Tests manchmal mit geringeren Werten ab. Sind sie weniger sensibel als Frauen? Mitnichten. Die Geschlechterverteilung der Hochsensiblen liegt bei 50/50. Doch wird es ihnen schwerer gemacht, ihre Sensibilität bewusst zu leben. Doch was genau führt dazu, dass es Männern so viel schwerer fällt, sich selbst als hochsensibel zu sehen?

Idealbilder unserer Gesellschaft

Zu jeder Zeit galten bestimmte Persönlichkeitsattribute in der Gesellschaft als erstrebenswert. Es gibt kulturell ein vorgefertigtes Bild. Doch die Frage „wie sollte ein Mann/eine Frau sein?“ ist durchaus veränderlich. Typische Idealeigenschaften sind biologisch nicht festgelegt, sondern gesellschaftlich konzipiert. Entspricht jemand nicht dem Idealbild, so bedeutet dies nicht, dass mit dem Menschen irgendetwas nicht stimmt, sein Persönlichkeitstyp ist nur gerade einfach nicht im Trend. Und hier liegt gerade das Problem: Die Persönlichkeitseigenschaften der Hochsensibilität sind aktuell eben nicht im Trend und passen grundsätzlich eher zu der gesellschaftlichen Rollenverteilung der Frau.

Hochsensibilität in früheren Gesellschaften

Hochsensible Menschen können aufgrund ihrer feinen Antennen Gefahren weitaus schneller bemerken und sichern dadurch das Überleben der gesamten Gruppe. Entwicklungsgeschichtlich fielen ihnen dadurch besondere Rollen und Berufe zu: So waren sie die Gelehrten, die Ratgeber, die Richter, Lehrer, Forscher, Dichter, Schriftsteller, Astrologen, Künstler, Heiler, Schamanen und Hebammen.

Lange Zeit galten nervöse und sensible Konstitutionen als klares Indiz für eine gebildete Herkunft und Feinheit. Männlich galt ein weises und tugendhaftes Verhalten. Es war gesellschaftlich erwünscht, seine Emotionen auszudrücken.

Heute im Trend: Die furchtlosen Krieger

In unserer Zeit heften wir uns noch an die Erwartungen an den Mann, die durch die industrielle Revolution und die zwei Weltkriege als notwendig entstanden sind. Damals brauchte man Männer, welche die nötige Ausdauer, Effizienz, physische Stärke, Produktivität und Härte mitbrachten, um in dieser Zeit gut zu überleben. Das prägt noch unser heutiges Bild.

Der heutige Mann soll unerschütterlich sein, eine Risikofreude mitbringen, möglichst zäh und unempfindlich sein. Das typische Bild des starken Mannes, der Kämpfer, der Gewinner, der Versorger und Beschützer, der immer die Kontrolle und Beherrschung behält.

Natürlich können auch hochsensitive Männer (in Teilen) dieses Rollenbild verkörpern. Doch weicht es in einem stärkeren Maße von ihren naturgegebenen Anlagen ab. Jedes Abweichen von der „Norm“ kann dazu führen, dass der betroffene Mensch sich in irgendeiner Weise falsch fühlt.

Emotionale Anpassung hochsensibler Männer

Viele Eigenschaften hochsensibler Menschen werden üblicherweise als typisch weiblich gesehen. Frauen dürfen Emotionen zeigen, es wird ihnen sogar verziehen, wenn sie irrational reagieren. Männer hingegen dürfen wütend sein. Darin erschöpft es sich dann aber schon.

In Anbetracht des emotionalen Reichtums, den die Hochsensibilität mitbringt, muss hier eine enorme emotionale Anpassungsleistung hochsensibler Männer vollbracht werden, die vom Energieaufwand durchaus mit physischer Arbeit vergleichbar ist.

Ein Mann darf nicht weinerlich sein, Trauer, Verzweiflung und Unbehagen dürfen nicht ausgedrückt werden. Das verstärkt die Problematik ins Unermessliche. Durch das Anderssein in Bezug auf das Idealbild können sowieso schon Selbstwertprobleme auftreten, wodurch eine größere Gefahr besteht, depressive Zustände zu entwickeln.

Doch diese werden bei Männern weitaus seltener überhaupt diagnostiziert, was den Zugang zu einer (psychotherapeutischen) Behandlung erschwert und damit die Chance nimmt, für das eigene psychische Wohlbefinden zu sorgen und Hilfe zu erhalten. Sie tun sich nicht nur schwerer damit, Hilfe zu suchen und anzunehmen, es zeigt sich ein ganz grundlegendes Problem: Männer sind tendenziell seltener in der Lage, ihre Gefühle überhaupt wahrzunehmen und zu benennen. Somit können sie auch nicht darüber sprechen, was sie belastet.

So neigen sie auch eher dazu, ihre Gefühle zu betäuben. Egal auf welche Weise, ob sie sich emotional von sich selbst und ihrer Umwelt abkoppeln, (riskante) Grenzerfahrungen suchen und/oder Drogen missbrauchen: Es geht darum, seine Gefühle – sich selbst – möglichst wenig zu spüren, was die Möglichkeiten nimmt, konstruktiv aus dieser Situation herauszukommen. Nicht ohne Grund sind die Suizidraten von Männern weitaus höher als die von Frauen. Teilweise liegt das Verhältnis bei 5:1.

Abweichung vom Idealbild und Selbstwertprobleme hochsensibler Männer

Macht ein Mensch die Erfahrung, dass er so wie er ist, (scheinbar) nicht gewünscht und gewollt ist, versucht er dies meist durch Anpassung an bestimmte Bilder, von denen er denkt, so „sollte“ er sein, wettzumachen. Dies führt dazu, dass seine Gedanken ständig darum kreisen, was andere von ihm denken könnten und wie er sich jetzt verhalten soll. Nach und nach verliert er das Gefühl für seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Gerade in Bezug auf die romantischen Beziehungen stehen viele (heterosexuelle) Männer vor einem Problem: Zwar werden Freundschaften zu Frauen durch die Hochsensibilität erleichtert, viele Männer gelten gar als „Frauenversteher“. Doch für das sexuelle Interesse benötigt es robuste Selbstsicherheit, die viele hochsensitive Männer aufgrund ihrer Vorerfahrungen nicht ausstrahlen. Auch fehlt das Spielerische, weil durch die emotionale Intensität eine höhere Gefahr für tiefe Verletzungen gegeben ist.

Umso wichtiger ist es, sich mit der eigenen Sensitivität wohl zu fühlen und dies auch nach Außen ausstrahlen zu können.

Das gesellschaftliche Bild aus einem anderen Blickwinkel

Auch wenn wir gesellschaftlich eine bestimmte Idealvorstellung hochhalten, so muss diese noch längst nicht mit dem persönlichen Geschmack der Männer und Frauen übereinstimmen. Für die einen ist ein „echter Mann“ entschlossen, selbstbewusst, unerschütterlich und durchsetzungsfähig, während diese Attribute für andere aussehen, als sei dieser Mann unbeherrscht, starrsinnig, gefühlsarm und selbstbezogen.

Auch ein hochsensibler Mann ist ein „echter Mann“. Er ist vielleicht nicht der typische Krieger, der furchtlos drauf losstürmt (außer, es muss sein. Dann können auch hochsensible Menschen zu Kriegern werden). Dafür ist er derjenige, der strategisch und planvoll vorgeht. Vielleicht kann er durch seine Voraussicht sogar Gefahren von Grund auf vermeiden und damit seine Familie schützen.

Vielleicht zeigt sich großer Mut gerade dadurch, dass man zu seinen Gefühlen steht und sich traut, diese auch zu zeigen? Selbst für hochsensible Frauen ist dies eine große Herausforderung, weil viele Menschen mit der Intensität überfordert sind. Seine Gefühle zu zeigen, bedeutet sich als Person der Welt zu zeigen, wie man wirklich ist, ohne eine Rolle dabei zu spielen. Das macht verletzlich, Verletzlichkeit macht Angst. Und Angst ist die Voraussetzung von Mut, denn ohne Angst bräuchte es keinen Mut. Ist Mut nicht eine Eigenschaft, die einen starken Mann ausmacht?

Gerade diese Verletzlichkeit ist es, die ehrliche und authentische Beziehungen ermöglicht. Nur wer sich zeigt, kann auch gesehen werden.

Eigene Wünsche und Bedürfnisse erkennen

Wer sich selbst kennt, legt den Grundstein für echtes Selbstvertrauen. Dieses Vertrauen in sich selbst, in die eigenen Fähigkeiten, kann genutzt werden, um sich das Leben so zu erschaffen, wie es für einen jeweils richtig ist.

Dann werden Wertungen anderer Menschen nach und nach immer weniger wichtig. Es müssen nicht mehr ständig die feinen Antennen ausgefahren werden, um zu ergründen, was jemand anderes gerade über einen denken könnte. Die Aufmerksamkeit wird aus der Außenwelt gezogen, sodass die eigenen Wünsche und Bedürfnisse wieder ins Blickfeld geraten. Es geht dann darum, für sich selbst die passenden Umstände zu finden.

Fazit

Egal ob Mann oder Frau: Wie richtig wir uns in der Welt fühlen, hängt oft maßgeblich davon ab, ob wir bestimmten Norm- oder Idealbildern entsprechen. Ist dies nicht der Fall, kann das Selbstgefühl Schaden nehmen. Wahre Freiheit erlangen wir dadurch, dass wir uns kennenlernen und nach und nach beginnen, uns als „in Ordnung“ anzunehmen. Dies legt den Grundstein für ein zufriedenes Leben nach den eigenen Vorstellungen.

Literatur:

Aron, Elaine(2014). Hochsensible Menschen in der Psychotherapie. Junfermann Verlag
Aron, Elaine (2015). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. mvg Verlag.
Falkenstein, Tom (2017). Hochsensible Männer. Mit Feingefühl zur eigenen Stärke. Junfermann Verlag.
Kunkat, Stefan (2015). Mein HSP-Coach – hochsensibel leben. Agnes Ellmann.

https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article140153773/Warum-die-Suizidrate-bei-Maennern-hoeher-ist.html

Literaturverzeichnis