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Hochsensibilität – Grundlagen

Hochsensibilität ist eine Wahrnehmungsbegabung. Sie ist ein angeborenes und unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal, das sich durch das gesamte Erleben eines Menschen zieht. Ein hochsensibler Mensch erlebt ALLES durch die Brille der Hochsensibilität – er kann nicht wahrnehmen wie ein “nicht hochsensibler Mensch” (im Folgenden der Einfachheit halber “normalsensibler Mensch” genannt). Umso unsinniger ist die vielfach hervorgebrachte Forderung, Hochsensible sollten doch bitte ein bisschen mehr „normal“ sein.

„Die gesamte Eigenart ist das Instrument, auf dem der Sensible die Melodie des Lebens zu spielen hat“
 Eduard Schweingruber, „Der sensible Mensch“, 1935

Auch wenn das Konstrukt der Hochsensibilität schon sehr viel früher erforscht wurde, fand es erst in den 90ern im westlichen Kulturkreis dank der US-amerikanischen Psychologin Prof. Elaine Aron wirkliche Beachtung. Sie beschrieb Hochsensibilität wissenschaftlich als „sensory processing sensitivity“ und zeigte auf, dass es sich dabei um ein völlig normales Persönlichkeitsmerkmal handelt. Nach Elaine Aron sind etwa 15-20 % der Bevölkerung hochsensibel. 

Hochsensibilität: Ein Leben ohne Filter?

Vielfach erscheint in den Medien die Aussage, Hochsensible könnten eingehende Reize nicht filtern. Ich sage es kurz und knapp: Das ist Quatsch. Hochsensible können sehr wohl Reize filtern – würden sie es nicht tun, wären sie absolut nicht lebensfähig. Allerdings scheint es so, dass tatsächlich mehr Reize durchgelassen werden und das Bewusstsein erreichen. Der hochsensible Mensch hat dabei, wie jeder andere auch, die Möglichkeit einigermaßen zu steuern, welchen Reizen mehr Aufmerksamkeit gegeben wird und welchen nicht. Oftmals wird behauptet, Hochsensible könnten “unwichtige” Reize nicht filtern. Auch das ist Unsinn – sie haben vielleicht einfach nur ein anderes Verständnis von wichtigen und unwichtigen Reizen. Diese Beurteilung wird immer subjektiv getroffen.

Hochsensibilität und Trauma

Auch kommt immer wieder das Gerücht hoch, Hochsensibilität sei durch Trauma ausgelöst. Das ist in der Tat nicht der Fall, allerdings gibt es bestimmte Merkmale Traumaüberlebender, die dem durch die Medien vermittelten Bild der Hochsensibilität stark ähneln.

Auch neigen wir unter Stress eher dazu, Merkmale an uns wahrzunehmen, die wir mit Hochsensibilität verbinden. Wir werden emotionaler, reagieren empfindlicher auf sensorische Reize und neigen stärker zur Übererregung (was auch kein Wunder ist, wenn das Fass gerade am überlaufen ist). Diese Stresssymptome betreffen jedoch alle Menschen und nicht nur Hochsensible.

Allerdings ist es tatsächlich so, dass Hochsensible stärker unter ungünstigen Bedingungen leiden, gleichzeitig aber auch stärker von guten Bedingungen profitieren. So erfreuen sich nach Aron etwa 50 % der Hochsensiblen einer guten psychischen Gesundheit. Aron führt dies auf ein Aufwachsen in einer sehr annehmenden Umgebung zurück. Die anderen 50 % hingegen haben Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden, was Aron davon ableitet, dass sie unter ungünstigeren Bedingungen aufgewachsen sein mussten und bestimmte Strategien nicht erlernen konnten, die ihnen im Umgang mit ihrer Hochsensibilität entschieden helfen würden. Doch diese Strategien können zum Glück in den meisten Fällen nachgelernt werden.

Hochsensibilität nach Aron: Die vier Kategorien

Doch stellt sich nun die Frage: Wie lässt sich feststellen, ob eine Hochsensibilität vorliegt? Hier lohnt sich ein Blick auf die vier Kategorien, deren Kriterien sämtlich vorhanden sein müssen, um als hochsensibel identifiziert zu werden:

1. Emotionale Intensität

Hochsensible Menschen fühlen tief und viel. Auf Ereignisse haben sie eine stärkere und länger anhaltende Reaktion als Normalsensible. Das gilt sowohl für angenehme, als auch für unangenehme Gefühle. Glücksmomente können zu größter Freude, geradezu Euphorie führen, während negative Emotionen als niederschmetternd erlebt werden. „Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ trifft auf viele Hochsensible zu und ist ein völlig normales Merkmal ihres Persönlichkeitstyps, auch wenn Außenstehende über die Intensität der Gefühle irritiert reagieren können – weil sie eine andere Wahrnehmung haben. Bisweilen können diese starken Gefühle für impulsive Entscheidungen sorgen, die dann wiederum zu einer Überforderung der hochsensiblen Person führen.

Die Gefühle anderer Menschen bleiben vor Hochsensiblen selten verborgen – es sei denn, die hochsensible Person hat sich selbst in einen emotionalen Schutzwall eingeschlossen.

2. Sensorische Empfindlichkeit

Hochsensible nehmen mehr wahr: Sie verarbeiten die Reize über ihre Sinnesorgane intensiver als normalsensible Personen. Besonders unter Stresseinwirkung fühlen sich Hochsensible schneller als Normalsensible überreizt und müssen sich zurückziehen, um die vielfältigen aufgenommenen Informationen zu verarbeiten.

Die sensorische Empfindlichkeit äußert sich insbesondere als:

● Licht- und Farbempfindlichkeit (z. B. große Anstrengung bei Autofahrten in der Nacht, Probleme mit der Bildschirmarbeit, große Freude an Sonnenuntergängen, Kunst, farblicher Harmonie),

● Geräuschempfindlichkeit (z. B. Schwierigkeiten in Großraumbüros, Geräusche können schwer ausgeblendet werden, Probleme Gesprächen zu filtern in geräuschvoller Umgebung, starke Reaktion auf schöne Klänge und Musik),

● Geruchsempfindlichkeit (z. B. werden Parfums schnell als unangenehm empfunden, Wetterumschwünge werden in der Luft erschnuppert),

● Geschmacksempfindlichkeit (z. B. oft Vorliebe für feine und gut abgestimmte Geschmacksnuancen) und

● Berührungsempfindlichkeit (z. B. Temperaturempfindlichkeit, Etiketten müssen aus der Kleidung entfernt werden, lieber bequeme als schicke Kleidung, starke Reaktion auf körperliche Nähe, Schmerzempfindlichkeit)

Unter (Dauer-)Stress fällt es Hochsensiblen meist noch sehr viel schwerer als sonst, die unangenehmen Aspekte ihrer Sensibilität zu bewältigen. Umso schneller kommen sie in den Zustand der Reizüberflutung.

3. Übererregbarkeit

Hiermit ist die „Reizüberflutung“ gemeint. Hochsensible nehmen mehr Reize wahr, die sie – so die Vermutung – aufgrund ihrer höheren kognitiven Fähigkeiten auch schneller verarbeiten können als normalsensible Personen. Doch in manchen Situationen kann es passieren, dass mehr Reize aufgenommen werden, als in dem Moment verarbeitet werden können. Unter Stress nimmt die kognitive Kapazität ab – die betroffenen Menschen können sich dann schlechter erinnern, haben Wortfindungsschwierigkeiten und eine allgemeine Gedankenarmut (das Blackout in der Prüfung). Begleiterscheinungen sind oft schwitzige Hände, eine erhöhte Herzfrequenz, Erröten und Magen- und Darmbeschwerden.

Grundsätzlich können auch normalsensible Personen von diesen Symptomen in Stresssituationen begleitet werden, doch bei hochsensiblen Menschen fällt die Reaktion meist noch intensiver aus. Dies ist leider auch ein Grund, weswegen einige Hochsensible das öffentliche Reden meiden oder aufgrund ihrer Übererregung in Prüfungssituationen nicht die Leistungen erreichen, zu denen sie eigentlich fähig wären. Mitunter passiert es, dass Hochsensible ihre Übererregung als Ängste missverstehen und daher nicht die richtigen Strategien entwickeln, um mit diesen Situationen fertigzuwerden. Hier kann eine Beratung hilfreiche Ansätze liefern.

4. Gründliche Informationsverarbeitung

Als Schlüsselmerkmal gilt die gründliche Informationsverarbeitung. Dies äußert sich darin, dass Hochsensible mehr Nachdenken, über so ziemlich alles und jeden. Das kann den eigenen Alltag betreffen, sich selbst, Beziehungen, den Job, aber auch den Sinn des Lebens, Ethik und die Frage, wie man am besten die Welt retten kann. Sie erfassen theoretische Sachverhalte schneller und tiefer.

Manchmal zeigt sich dieses Merkmal auch dahingehend, dass Hochsensible Schwierigkeiten haben Entscheidungen zu treffen, weil sie schließlich alle Eventualitäten und mögliche Ausgänge einer Situation mit einbeziehen.

Wichtig zu beachten: Hochsensibilität darf nicht mit einer sozialen Empfindlichkeit gleichgesetzt werden. Weder Fürsorglichkeit, noch Empfindlichkeit gegenüber Kritik haben im ursprünglichen Sinne etwas mit Hochsensibilität zutun.

Geht Hochsensibilität mit einer höheren Intelligenz einher?

Halten wir fest: Hochsensible nehmen mehr Reize/Informationen aus der Umwelt wahr. Intelligente Menschen verarbeiten in kürzerer Zeit mehr Informationen als weniger Intelligente Menschen. Würde es Sinn ergeben, einen Menschen mit einer höheren Verarbeitungsgeschwindigkeit und -kapazität auszustatten, wenn er nicht auch in kürzerer Zeit mehr Informationen aufnehmen könnte (wo wir wieder bei der Hochsensibilität wären)?

Elaine Aron zur gründlichen Informationsverarbeitung: 

“Zu Intelligenzunterschieden möchte ich anmerken, dass ich noch nie die Kombinanzion von niedriger Intelligenz und hoher Sensibilität gesehen habe und vielleicht wäre sie bei der gründlichen Informationsverarbeitung der Sensiblen auch gar nicht möglich.” 

Elaine Aron, “Hochsensible Menschen in der Psychotherapie”, Junfermann, Paderborn 2014, S. 252

Somit bekommen wir schon einmal die empirische Aussage von Elaine Aron, dass Hochsensible zumindest nicht unterdurchschnittlich intelligent sind, gleichsam mit einem kleinen Verweis darauf, dass eine niedrige Intelligenz sich schlicht und ergreifend nicht mit dem Konstrukt Hochsensibilität vertragen würde.

Wie versteht man Hochsensibilität?

Eine weitere Frage im Kontext Hochsensibilität und erhöhte Intelligenz ist, wie genau man eigentlich Hochsensibilität versteht. Aus den vier oben genannten Kategorien, die sämtlich vorliegen müssen, um von einer Hochsensibilität zu sprechen, werden allerhand Persönlichkeitsmerkmale abgeleitet. Diese können bei einer hochsensiblen Person vorliegen – müssen aber nicht. Hochsensible sind – ebenso wie auch Hochbegabte – unglaublich facettenreiche Menschen und manche Stimmen behaupten, Hochsensible und Hochbegabte seinen untereinander unterschiedlicher als Normalsensible und Normalbegabte unter ihresgleichen.

Vielfach wird das Bild Hochsensibler dahingehend geprägt, dass sie sanfte Zeitgenossen seien, stets empathisch und lieber ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen, als einen Konflikt zu riskieren. Ohne Frage gibt es diese Menschen, doch für viele Hochsensible können sich mit diesem Bild nicht identifizieren. Auch Hochsensible können egoistisch, unfair und ein Elefant im Porzellanladen sein. Bei vielen Hochsensiblen kommt die erhöhte Tendenz zur Übererregung überhaupt nicht zum tragen, da sie schon in ihrer frühen Kindheit Strategien an die Hand bekommen haben, um mit ihrer Sensibilität gut umzugehen und mit einer Selbstverständlichkeit für sich zu sorgen. Oder die Übererregung ist versteckt und zeigt sich durch eine dauergereizte Miesepetrigkeit, weil sie von vornherein gelernt haben, dass sie “hart” sein müssen, um anerkannt zu werden und vielleicht auch, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Was bitter ist, denn diese Anpassung geht zu Lasten der Lebensfreude, nicht nur von sich selbst, sondern auch von den Personen im näheren Umfeld.

Viele Hochsensible interessieren sich gar nicht so sehr für zwischenmenschliche Belange, sondern sind mehr auf ihre Interessen, konstruieren gerne alles mögliche und setzen sich mit Sachthemen auseinander. Dennoch bringen sie das emotionale Potenzial mit, es wird nur anders ausgelebt.

Wenn wir das Konstrukt Hochsensibilität auf das konzentrieren, was in diesen vier Kategorien genannt wird, wenn wir es als erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit bezeichnen, könnte durchaus eine Korrelation zwischen Hochsensibilität und einer erhöhten Intelligenz vorliegen. Einen wissenschaftlichen Beweis gibt es dafür bislang aber leider nicht.

Hochsensibilität und Hochbegabung

Einige Quellen bestreiten, dass es so etwas wie typische Merkmale Hochbegabter geben könnte. Andere Fachpersonen und Begabungsforscher sehen hingegen durchaus bestimmte Denkweisen und Verhaltensmuster, die bei Hochbegabten gehäuft auftreten.

Einige Forscher sehen keinen Zusammenhang zu Hochsensibilität, für andere wiederum ist völlig offensichtlich, dass Hochbegabung mit einer erhöhten Sensibilität einhergeht.

Je nachdem, auf welche Quelle man sich nun einigt, überschneiden sich durchaus die Merkmallisten für Hochsensibilität und Hochbegabung.

Aus meiner eigenen beruflichen und privaten Erfahrung mit Hochbegabten kann ich sagen, dass ich tatsächlich keinen Hochbegabten persönlich kenne, der nicht auch hochsensibel ist. Und gleichzeitig keinen Hochsensiblen, bei dem keine überdurchschnittliche Intelligenz vorliegt (durch IQ-Test bestätigt) oder nach meiner fachlichen Einschätzung vorliegen müsste.