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Hochsensibilität und der narzisstische/ehrgeizige Persönlichkeitsstil

Vielfach wird von der Seite der Hochsensibilität angenommen, dass sich Narzissmus und Hochsensibilität gegenseitig ausschließen würden. Zunächst einmal müssen wir an dieser Stelle differenzieren zwischen einem Persönlichkeitsstil und einer Persönlichkeitsstörung – wobei dieser Begriff im ICD-11 und im DSM-5 für die meisten Persönlichkeitsstile abgeschafft wurde – wir sprechen nun von Persönlichkeitsakzentuierungen bzw. -stilen. Dieser Schritt war ein sehr wichtiger, denn bei der Ausprägung der Persönlichkeitsstile befinden wir uns in einem Kontinuum. Ein narzisstischer Persönlichkeitsstil ist daher grundsätzlich erst einmal kein sicherer Indikator für toxisches bis hin zu psychopathischem Verhalten.

Ganz im Gegenteil: In geringer Ausprägung kann ein narzisstischer Stil sogar eine besondere Ressource sein! Betroffene sind meist sehr leistungsmotiviert und in einem hohen Maße am Fortkommen unserer Gesellschaft beteiligt. Sofern sie in die Lage kommen konnten, ihr Potenzial verwirklichen zu können, sind sie beruflich auch meistens sehr erfolgreich. Dabei muss das nicht zu Lasten bestimmter Moralvorstellungen gehen: Gerade hochsensible Menschen mit einem narzisstischen Stil sind oft sehr daran interessiert, unsere Welt dahingehend zu formen, dass sie für uns eine bessere wird.

Ein stärker ausgeprägter Narzissmus kann jedoch zu ungünstigen Schemata (bestimmten Denk-, Fühl- und Handlungsmustern) führen. Diese zeigen sich in erster Linie in destruktiven Annahmen über sich selbst, die zwischen extremen Gefühlen der Wertlosigkeit und Phasen eines überhöhten Bildes von sich selbst schwanken können. Das ist für die Betroffenen meist außerordentlich anstrengend und kann bedeuten, dass sie stetig über ihre eigenen Leistungsgrenzen gehen.

Aber auch anderen Menschen gegenüber können sich negative narzisstische Schemata manifestieren. Wenn ihr merkt, dass sich jemand vor euch versucht in einem besonders guten Licht darzustellen, stecken dahinter oft Gefühle der Minderwertigkeit, die dem Betroffenen mitunter selbst gar nicht bewusst sind. Das ist ungünstig für Beziehungserfahrungen, weil das Ziel des Ganzen natürlich ist, den anderen zu blenden, womit man aber nie jemanden richtig an sich herankommen lässt, was das Gefühl echter Verbundenheit untermauert.

Mit einem ausgeprägten Stil kommt es dann auch irgendwann zu „Regelsetzerverhalten“, d. h. die betroffene Person definiert für sich, wie andere Personen mit ihr umzugehen haben und wie nicht. Typisch dafür ist der Gedanke, einem stünden Sonderrechte zu und man müsse wie ein VIP behandelt werden. Das ist besonders kritisch für Personen, die den narzisstischen Stil haben, aber aufgrund ungünstiger Umstände in ihrem Leben nicht erfolgreich werden konnten, dann von anderen aber erwarten so behandelt zu werden, als wären sie es. So empfinden sie z. B. Verkehrsregeln eher als nette Empfehlungen, an die sich andere zu halten haben, sie selbst aber nicht. Oder sie denken, dass sie Interaktionspartnern Aufgaben delegieren dürften, die sie eigentlich selbst zu erledigen haben – mit der Überzeugung, sie wären eben sehr gut darin, zu delegieren. Sie manipulieren, um ihre Ziele zu erreichen.

In bestimmten Umgebungen sind diese Verhaltensweisen auch sehr nützlich. In einem beruflichen Kontext ist ein Chef mit einem (leicht) ausgeprägten narzisstischen Stil auch nicht unbedingt Fehl am Platz, ganz im Gegenteil kann er seine Stärken dort gut ausleben und die Ziele des Unternehmens voranbringen. In privaten Beziehungen läuft er aber Gefahr, seine Mitmenschen zu verprellen oder noch schlimmer: Sie auszunutzen und damit zu verletzen.

Macht ein narzisstischer Stil vor Hochsensibilität halt: Nö. Ganz sicher nicht. Ein narzisstischer Stil entwickelt sich aufgrund einer Frustration des Anerkennungsmotivs. Ihnen wurde von ihren wesentlichen Bezugspersonen nicht im hinreichenden Maße mitgeteilt, dass sie als Person in Ordnung und liebenswert sind, ohne ständig etwas dafür leisten zu müssen. Auch macht sie die Erfahrung, ständig bewertet zu werden, immer auf dem Prüfstand zu stehen, was natürlich ungemein auslaugend ist.

In meiner Beratung habe ich recht oft mit Klienten zu tun, die einen leichten bis moderaten narzisstischen Stil entwickelt haben. Hat man gelernt damit umzugehen und nimmt man ihr Verhalten nicht persönlich, kann daraus ein ungemein fruchtbarer Austausch werden. Narzissmus wird in unserer heutigen Kultur oftmals geradezu als Schimpfwort gebraucht, was mich sehr betrübt und weswegen ich mich entschieden habe, darüber in der neuen Serie als erstes zu schreiben. Denn das haben die meisten nicht verdient! Neben ihrem narzisstischen Schema sind sie Menschen wie wir alle, die nur eine unglaubliche Verletzung im Leben davongetragen haben, die sie versuchen durch ihr Verhalten zu kompensieren. Seht den Menschen vor euch, nicht das Schema. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass einige von euch, die gerade meine Worte lesen, selbst einen ungünstigen Persönlichkeitsstil als Reaktion auf schwierige Erfahrungen in ihrem Leben ausgebildet haben, ist nicht gerade gering. Das ist tragisch, aber deswegen ist keiner von uns mehr oder weniger wert als andere!!!

Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass ein stark ausgeprägter Narzissmus anderen Menschen aber auch sehr schaden kann. Drum schaut für euch, wenn ihr es mit einem Menschen mit einem narzisstischen Stil zu tun habt, wie weit ihr mit dieser Beziehung gehen wollt und lernt eigene stabile Grenzen aufzubauen, die euch vor einem eventuellen Missbrauch schützen. Ein solches ausbeuterisches Verhalten ist bei Menschen mit einem leichten bis moderaten Stil aber eher unwahrscheinlich oder eben weniger stark ausgeprägt. Wie gesagt, wir haben es da mit einem Kontinuum zu tun.

Literatur:
Sachse, Rainer (2020). Persönlichkeitsstörungen verstehen. Über den Umgang mit schwierigen Klienten. Psychiatrie Verlag.
Sachse, Rainer (2019)- Persönlichkeitsstile. Wie man sich selbst und anderen auf die Schliche kommt. Junfermann Verlag.
Hafner, Bettina; Ritz, Gudula (2020). Irgendwie seltsam…! Über den Umgang im Coaching mit extremen Persönlichkeiten. managerSeminare Verlags GmbH