Haben Hochbegabte besondere Merkmale und Persönlichkeitseigenschaften, oder sind sie einfach “ganz normal nur ein bisschen schneller im Denken”? Hier spalten sich die Meinungen. Aus meiner jahrelangen Erfahrung als Beraterin für hochsensible und hochbegabte Menschen kristallisiert sich heraus, dass viele sich mit den besonderen Merkmalen, die auf den Beobachtungen und Forschungen vom polnischen Arzt, Psychiater und Psychologen Kazimierz Dabrowski basieren, identifizieren können. Kazimierz Dabrowski arbeitete mit besonders begabten und kreativen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dabei stellte er fest, dass diese besondere Eigenschaften mitbrachten, die er “Overexcitabilities” nannte und die als biologischer Faktor für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig sind (mehr zu seiner “Theory of Positive Disintegration” gibt es in einem weiteren Blogartikel – melde dich gerne bei meinem Newsletter an, um auf dem Laufenden zu bleiben).
Overexcitabilities: Was bedeutet das?
Aus dem Englischen übersetzt bedeutet der Begriff in etwa so viel wie “Übererregbarkeit”. Ein Begriff, in dem auch direkt eine Wertung steckt, nämlich das „Über“, also zu viel. Dabei muss man beachten, dass der Begriff von Dabrowski ursprünglich aus dem Polnischen kommt und die eigentlich sinnhaftere Übersetzung Superstimulierbarkeit gewesen wäre, was sich aber, wenn wir ehrlich sind, auch irgendwie komisch anhört. Im Deutschen sprechen wir daher gerne eher von Intensitäten oder Sensitivitäten. Oder einfach von Overexcitabilities.
Overexcitabilities im Überblick
- Angeborene Tendenz, verstärkt auf innere und äußere Reize zu reagieren
- Das bedeutet, dass eine Person mit Overexcitabilities weniger Stimulation ihrer Sinne braucht, um darauf zu reagieren, also ein reaktiveres Nervensystem im Vergleich zum Durchschnitt (vielleicht sieht hier der ein oder andere die Verbindung zum Thema Hochsensibilität)
- Tatsächlich scheint es dabei auch so zu sein, dass nicht nur schneller und intensiver auf Reize reagiert wird, sondern die Reaktion auf den Reiz auch länger anhält
- Personen mit Overexcitabilities sind im Schnitt intensiver, sensibler, einfühlsamer, ausdauernder und energischer als andere Menschen.
Die fünf Formen der Overexcitabilities
- Emotional: eine besondere Tiefe und Intensität der Emotionen, die sich in einer großen Bandbreite an Gefühlen zeigen – die größte Freude bis zur tiefsten Trauer gehören zur Grundausstattung eines emotional sensitiven Menschen sowie ein tiefes Mitgefühl und ein Gefühl der Verantwortung für all das, was ist. Unter Stress haben sie mitunter Schwierigkeiten, die heftigen Gefühle zu kontrollieren, denken viel über den Sinn des Lebens und den Gang der Zeit nach und neigen eher zu Symptomen wie Schlafstörungen, Schüchternheit, Ängsten und psychosomatischen Beschwerden.
- Sensual: Sensorisch besonders sensitive Menschen erleben sensorische Informationen, also alles was über unsere Sinne zu uns kommt wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und dem Sinn über die Vorgänge in unserem Körperinneren, verstärkt und mit einer besonderen Lebhaftigkeit. Unter Stress neigen sie zu einer starken Licht- und Geräuschempfindlichkeit und stören sich an Dingen wie z. B. dem Etikett in der Kleidung.
- Intellectual: Intellektuell intensive Menschen sind ganz besonders neugierige Menschen, die ständig Fragen stellen, sehr wissenshungrig und stets auf der Suche nach der Wahrheit sind. Sie haben ein scharfes Beobachtungsvermögen und sehr unabhängige und kritische Denker. Unter Stress neigen sie dazu, sich zu verzetteln mit ihren vielen Gedanken. Andere bemerken oft die Sprunghaftigkeit in ihren Gedanken (Anm. die vermutlich auf den assoziativen Denkstil zurückgeht, bei dem immer direkt mehrere Querverbindungen zu einem Thema gesehen werden und daher nicht linear nur einem Thema gefolgt wird). Außerdem kann es zu Perfektionismus und gemeinsam mit der imaginativen Intensität zu überhöhten Selbstansprüchen kommen (es ist ja auch schwierig, wenn man stets perfekt visualisieren kann, was “sein könnte”). Oftmals haben sie auch Schwierigkeiten mit Routineaufgaben.
- Imaginational: Imaginativ sensitive Menschen haben eine große Fantasie, die sich in aller Lebhaftigkeit gestaltet und eine enorme Fähigkeit der Visualisierung. Oftmals sind sie auch sehr intensive Träumer. Imaginativ sensitive Kinder haben manchmal imaginäre Freunde, die nur sie selbst sehen können. Unter Stress (und auch Langeweile kann Stress verursachen…Mehr dazu *klick*) driften imaginativ besonders intensive Menschen gerne in Tagträume ab. Außerdem hat die gute Fähigkeit zur Visualisierung eine Kehrseite: Auch Angstszenarien können sich sehr facettenreich und realistisch vorgestellt werden.
- Psychomotor: Psychomotorisch sensitive Menschen sind von einer besonders großen Energie geprägt, die sich niederschlägt durch eine erhöhte körperliche Aktivität, die sich sportlich ausdrückt oder durch schnelles Sprechen. Unter Stress führt eine psychomotorische Intensität zu einer verstärkten Nervosität, zu Impulsivität und auch zu Suchtverhalten, z. B. Workaholic. Gemeinsam mit der intellektuellen Intensität kann es zu einer geistigen Getriebenheit kommen “ich kann nicht aufhören zu denken”.
Es kann sein, dass nicht alle Overexcitabilities sichtbar sind. Manchmal liegt eine Ausprägung schlicht nicht vor, oder, und das scheint häufiger der Fall zu sein, sie wird verborgen.
Was bedeutet es, wenn man selbst Overexcitabilities mitbringt?
Je stärker die Overexcitabilities ausgeprägt sind, umso mehr Lebensfreude können sie einerseits bringen. Andererseits bieten sie in einer Gesellschaft, in der sehr intensive und sensitive Menschen nicht die Norm darstellen, aber auch Futter dafür, dass Betroffene von anderen abgelehnt werden, was nicht nur die Peer-Group betrifft, sondern auch Lehrer und Arbeitgeber, von denen manche das Potenzial nicht einzuschätzen wissen.
Das ist natürlich extrem bitter für die Betroffenen und das kann dazu führen, dass die Overexcitabilities versteckt werden und man versucht, sich anzupassen. Dass dafür ein Preis gezahlt wird, erscheint nur logisch: Auf der einen Seite entgeht der Gesellschaft das enorme Potenzial, das mit den Overexcitabilities einhergeht, auf der anderen Seite müssen die betroffenen Menschen sich gewissermaßen selbst verraten und dürfen nicht ihr Sosein leben. Das hemmt die Lebensfreude enorm und kann dazu führen, dass die Person entmutigt wird, glaubt mit ihr wäre etwas falsch, bis zu dem Punkt, dass sie Depressionen und Ängste entwickelt. An der Stelle sei einmal gesagt, dass es natürlich jedem Kind so geht, wenn es sich als die Person, die es ist, abgelehnt fühlt. Bei Menschen mit Overexcitabilities kann dies aber noch deutlich verstärkt sein, insbesondere bei den emotional besonders sensitiven Menschen, weil diese nochmal deutlich empfindlicher auf soziale Ablehnung reagieren können und dann eher dazu neigen, sich anpassen zu wollen.
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Literatur:
Dabrowski, Kazimierz (2015). Personality Shaping Through Positive Disintegration. Red Pill Press
Daniels, Susan; Piechowski, Michael M. (2008). Living with Intensity. Great Potential Press
Mendaglio, Sal (2008). Dabrowski’s Theory of Positive Disintegration. Great Potential Press.
Mönks, Franz-J., Rogalla, Marion (2010). Journal für Begabtenförderung. Sensitivität nach Dabrowski. 02/2010