In den letzten Jahren ist die Diagnosen ADHS verstärkt in den Mittelpunkt gerückt. Früher wurde angenommen, dass Hochbegabung und ADHS sich gegenseitig ausschließen – doch die Forschung hat längst gezeigt, dass beides durchaus gemeinsam auftreten kann. Gleichzeitig besteht bei Hochbegabten jedoch ein hohes Risiko für ADHS-Fehldiagnosen. So warnt mittlerweile auch die American Psychiatric Association ausdrücklich vor dieser Problematik (Webb, 2015).
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ToggleVerhaltensweisen, die für manche Hochbegabte typisch sind, können als ADHS fehlinterpretiert werden. Daher ist es wichtig, genau zu unterscheiden, wie sich Hochbegabte in ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihrem Verhalten zeigen und welche Symptome eine langanhaltende Unterforderung hervorrufen kann. Aus meiner mehrjährigen Erfahrung als Beraterin für Hochbegabung weiß ich, dass die Auswirkungen einer chronischen Unterforderung häufig massiv unterschätzt werden. Ebenso wichtig ist es zu verstehen, wie tatsächliches ADHS in Kombination mit Hochbegabung wirkt und wie beide Phänomene sich gegenseitig verschleiern können.
Ich bitte um Beachtung der Tatsache, dass ich keine ADHS-Expertin bin. Meine Expertise bezieht sich in erster Linie auf die Themen Hochsensibilität und Hochbegabung. Durch angrenzende Themen wie ADHS habe ich mich logischerweise auch mit diesen beschäftigt und versuche mit diesem Blogartikel nach bestem Wissen und Gewissen einen Überblick über die Phänomene für meine Leser zu schaffen.
ADHS, Hochbegabung oder beides?
Der Verdacht auf ADHS entsteht häufig, wenn Menschen, unabhängig vom Alter, Probleme mit der Aufmerksamkeit zeigen oder hyperaktiv wirken. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, deren Verhalten aus dem Rahmen fällt, wird oft vorschnell auf eine Störung geschlossen, anstatt nach natürlichen oder gesunden Ursachen zu suchen. Gerade bei hochbegabten Personen kann eine solche Herangehensweise irreführend sein: Anstatt das Verhalten vorschnell zu pathologisieren, sollte zunächst abgeklärt werden, ob eine Hochbegabung vorliegt und ob möglicherweise eine dauerhafte Unterforderung die Ursache für das auffällige Verhalten sein könnte.
Eine gründliche Diagnose erfordert das vollständige Verständnis der Persönlichkeit und des kognitiven Potenzials der betroffenen Person. Hochbegabung kann Verhaltensweisen mit sich bringen, die ADHS ähneln – wie etwa das Infragestellen von Regeln, Langeweile bei routinemäßigen Aufgaben oder das Bedürfnis, intensiver zu lernen als Gleichaltrige. Fachleute, die bei einer ADHS-Verdachtsdiagnose die Möglichkeit einer Hochbegabung vernachlässigen oder IQ-Tests keine ausreichende Bedeutung beimessen, laufen Gefahr, das Verhalten falsch zu interpretieren und die falschen therapeutischen Schritte einzuleiten (Gerstenberger-Ratzeburg, 2019).
Hochbegabte Menschen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – zeigen oftmals Merkmale, die auf ADHS hinweisen könnten, die jedoch tatsächlich Ausdruck ihrer Intelligenz und ihrer sensiblen Wahrnehmung sind. So führen Unterforderung und mangelnde Stimulation im Alltag häufig zu Unaufmerksamkeit, impulsivem Verhalten und Hyperaktivität. Der erste Schritt sollte daher immer eine eingehende Abklärung dieser Aspekte sein. Wenn die Hochbegabung und ihre Auswirkungen umfassend verstanden sind, können weitere Abklärungen folgen, um mögliche andere Diagnosen, einschließlich ADHS, zu prüfen und Fehldiagnosen zu vermeiden.
Für die betroffenen Menschen hat eine mangelnde Abklärung der Hochbegabung sowie ein unzureichendes Verständnis der Bedürfnisse von Hochbegabten weitreichende Folgen: Eine Hochbegabung bringt Bedürfnisse mit sich, die spezifische Fördermaßnahmen und eine passende Lern- oder Arbeitsumgebung erfordern. Wenn eine Fehldiagnose von ADHS vorliegt, bleibt diese Unterstützung oft aus, und die Person wird stattdessen auf eine Weise behandelt, die ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird, auch wenn eine ADHS-Medikation kurzzeitig eine Verbesserung hervorrufen kann, da sie bei Unterforderung als „kognitive Krücke“ dienen kann. Dies führt zu einem Teufelskreis aus Unterforderung und einer unzureichenden Förderung, der das Potenzial der hochbegabten Person einschränkt. Sie benötigen keine medikamentöse, sondern kognitive Stimulation.
Fachleute, die diagnostisch mit hochbegabten Personen arbeiten, sollten daher immer eine differenzierte Herangehensweise wählen. Die Kombination von Hochbegabung und tatsächlichem ADHS ist möglich und kann eine besondere Herausforderung darstellen. Es ist jedoch wichtig, sorgfältig zwischen einer Hochbegabung und ADHS zu unterscheiden und die Hochbegabung als integralen Teil der Persönlichkeit zu berücksichtigen. Nur so kann eine umfassende und gerechte Diagnostik stattfinden, die sowohl die Besonderheiten einer Hochbegabung als auch mögliche Störungen wie ADHS berücksichtigt und keine vorschnellen Schlüsse zieht.
Leitfaden: Hochbegabung von psychischen Störungen unterscheiden
Bevor wir an eine Störung denken, müssen wir verstehen, welche Verhaltensweisen für Hochbegabte (in einem unpassenden Umfeld) erklärbar sind. Denn danach richtet sich letztendlich die Behandlung.
Um eine Hochbegabung von Störungen zu unterscheiden muss die Situation im Gesamtkontext betrachtet werden. Zunächst stellt sich offensichtlich die Frage, ob eine Hochbegabung vorliegt und welche Verhaltensweisen für eine hochbegabte Person generell als „normal“ gesehen werden. Hierbei ist unumgänglich, die Muster der hochbegabten Person von den deutlich häufiger vertretenen Mustern normalbegabter Personen abzugrenzen und sie im Kontext der Umweltfaktoren zu betrachten.
Dies puffert dann ggf. schon den Eindruck von anderen Menschen ab, dass mit der betreffenden Person etwas „nicht stimmt“ – insbesondere dann, wenn der hochbegabte Mensch diese Einstellung nicht teilen kann.
Normale Verhaltensweisen von Hochbegabten
Im nächsten Schritt können die normalen und typischen Verhaltensweisen der hochbegabten Menschen mit denen der vermuteten Störung verglichen werden. Liegt eine Hochbegabung vor, so wird zunächst angenommen, dass die Verhaltensweisen von der Hochbegabung herrühren und keine pathologische Relevanz haben. Gehen die Verhaltensweisen über das hinaus, was als „typisch hochbegabt“ gilt und stimmen die diagnostischen Kriterien mit dem Verhalten überein, so kann für diese Umstände nach sorgfältiger Abwägung der folgenden Fragen eine Störung neben der Hochbegabung in Betracht gezogen werden.
Besondere Sorgfalt muss hierbei für das Verhalten von hochbegabten Kindern gelten, da eine asynchrone Entwicklung ebenfalls für die Ausbildung von ungünstigen Verhaltensweisen maßgeblich sein kann. Dies erfordert ebenfalls eine Betrachtung der Gesamtsituation unter Einbeziehung der typischen Entwicklungsschritte, die ein hochbegabter Mensch vollzieht.
Beeinträchtigung durch das Verhalten
Auch das Ausmaß der Beeinträchtigung muss berücksichtigt werden. Wenn eine Störung in Betracht gezogen wird, so müssen die Symptome für die Diagnose in mindestens einem Funktionsbereich (z. B. sozial, beruflich) in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen verursachen. Eine reine Ähnlichkeit und Assoziation der Verhaltensweisen mit einem Störungsbild reicht zur Diagnosestellung nicht aus.
Persönliche Gründe für das Verhalten und Vorgeschichte
Die als ungünstig wahrgenommenen Verhaltensweisen können von anderen Personen missverstanden und als Störungsbild interpretiert werden, obwohl sie bei genauerer Betrachtung aus der Sicht des Hochbegabten durchaus logische Reaktionen auf bestimmte Umstände sind. Hierbei ist es hilfreich die hochbegabte Person zu fragen, warum sie entsprechend reagiert und welche Absichten sie damit verfolgt (sofern dies der Person bewusst ist).
Unpassendes Umfeld
Des Weiteren stellt sich die Frage, wo diese Probleme auftreten, d. h. ob die Umgebung passende Reize bietet oder durch eine Nichtpassung zu Stress bei der hochbegabten Person und ggf. mitbetroffenen Personen (Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen, Freunde) führt. Dies kann in der Schule, am Arbeitsplatz oder auch im häuslichen Umfeld der Fall sein. Beachten müssen wir, dass ein an der Norm angepasstes Umfeld für einen außergewöhnlich begabten Menschen zu Stress führen kann. Die betroffene Person kann Verhaltensweisen ausbilden, die ihr zur Bewältigung der Situation dienen sollen, die aber gleichzeitig von sich selbst oder anderen Menschen als ungünstig wahrgenommen werden.
Problem tritt nur in einer bestimmten Situation auf
Ob das unpassende Umfeld Grund für die Ausprägung des Verhaltens ist, lässt sich unter anderem auch daran messen, in welchen Situationen das Problem auftritt. Maßgeblich hierbei ist, ob sich das Verhalten konstant durch das Leben zieht, oder nur in bestimmten Zeitabschnitten, Situationen oder Umgebungen zu finden ist.
Ausprägung von „echten“ Störungen aufgrund des unpassenden Umfelds
Aufgrund einer unpassenden Umgebung kann die betreffende Person unter so einem Stress stehen, dass sie tatsächlich diagnostizierbare Störungen ausbildet. Hierbei ist jedoch unbedingt die Ursache der Ausprägung der Störung zu beachten, da die Behandlung einer hochbegabten Person unter Umständen deutlich von der Behandlung einer normalbegabten Person unterschieden werden muss. Die Ursache liegt nicht in der Person selbst, stattdessen sollte das Umfeld dahingehend überprüft werden, ob und wie die Situation für den Hochbegabten geändert werden kann.
„Echte“ Doppeldiagnosen
Auch Hochbegabte können von „echten“ pathologischen Störungen betroffen sein. Hier kann die Hochbegabung sogar ursächlich an der Ausprägung beteiligt sein, wie z. B. Im Fall der existenziellen Depression. Oder beide Diagnosen existieren unabhängig voneinander, was allerdings eine Anpassung der Behandlung in Hinblick auf die Hochbegabung nicht ausschließt.
Wichtig ist in jedem Fall, der betroffenen Person zu erläutern, welchen Einfluss die Hochbegabung und welche Auswirkungen die Störung auf das Leben hat.
Fazit
Bei der Diagnosevermutung müssen wir beachten, dass ein Großteil der Bevölkerung die normalen Verhaltensweisen von Hochbegabten nicht oder nur unzureichend nachvollziehen kann. Normale Verhaltensweisen werden als pathologisch wahrgenommen, was eine korrekte Diagnose seitens einer nicht auf Hochbegabung spezialisierten Fachperson enorm erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht.
Ob die Hochbegabung mit einer weiteren Diagnose einhergeht oder nicht – in jedem Fall sollen die gesunden Anteile der betroffenen Person gestärkt und darüber aufgeklärt werden. So wird der betroffenen Person die Identifizierung mit einem gesunden und integralen Persönlichkeitsmerkmal erleichtert und ggf. schon dadurch der Leidensdruck erheblich verringert.
IQ-Tests und Hochbegabung: Ein Werkzeug mit Grenzen
Beim Testen des Intelligenzquotienten ist eines besonders wichtig: Die gängigen Tests wurden für die allgemeine Bevölkerung entwickelt, nicht speziell für Hochbegabte – auch wenn sie in der Diagnostik von Hochbegabung eingesetzt werden. So ist der häufig verwendete KABC-II beispielsweise schlicht zu einfach für Hochbegabte, was die Wahrscheinlichkeit für falsch-negative Ergebnisse erhöht. Dies bestätigte mir auch Dr. Gerstenberger-Ratzeburg, eine anerkannte Begabungsdiagnostikerin, deren Fachwissen und Diagnostik seit Jahren meinen Klienten und mir wertvolle Dienste leistet. Ist ein Test zu leicht, empfinden hochbegabte Kinder ihn oft als langweilig. Das eigentliche Potenzial bleibt dann verborgen, weil die Aufgabenstellung nicht herausfordernd genug ist, um die wahre Leistungsfähigkeit zu zeigen.
Auch andere weit verbreitete Tests haben ihre Tücken. Der WISC-V, ein insgesamt präziser und weitverbreiteter Test zur Diagnostik von Hochbegabung bei Kindern, zeigt bei hochbegabten Kindern häufig eine auffallend niedrige Verarbeitungsgeschwindigkeit (Preckel & Vock, 2021). Die genauen Ursachen dafür sind wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt, doch einige plausible Überlegungen lassen sich ableiten:
Hochbegabte verfügen oft über eine ausgeprägte kreative und divergente Denkweise (Reichardt, 2018), die sich mit steigendem IQ noch intensivieren kann. Dieser Denkstil unterscheidet sich stark vom schnellen, linearen Denken, das in vielen Testaufgaben gefordert wird. Da die Probleme häufig sequentiell und wenig anspruchsvoll sind, wirken sie wenig motivierend für Menschen mit analytischem oder komplexem Denkstil. Dies kann dazu führen, dass hochbegabte Kinder die Aufgaben langsamer bearbeiten, weil sie parallel Ideen abwägen oder Alternativen im Hinterkopf durchspielen.
Zusätzlich kann die monotone, routinierte Natur dieser Aufgaben die Motivation und Konzentration trüben. Schnell stellt sich ein Gefühl der Langeweile ein, das leicht als Unaufmerksamkeit oder gar als Anzeichen von ADHS fehlinterpretiert wird. Auch der oft bei Hochbegabten anzutreffende Perfektionismus und Zweifel kann die Verarbeitungsgeschwindigkeit senken, da hier Präzision vor Schnelligkeit steht. In Kombination mit einer Hochsensibilität, die zu einer verstärkten Wahrnehmung von Details und Reizen führt, kann sich dieser Effekt weiter verstärken.
Ähnliche Herausforderungen bestehen auch im WAIS-IV, der bei Erwachsenen zur Hochbegabungsdiagnostik eingesetzt wird und als einer der wenigen Tests auch Höchstbegabung erfassen kann.
Das Ergebnis einer vermeintlich niedrigen Verarbeitungsgeschwindigkeit kann dann irrtümlich als Anzeichen für ADHS gedeutet werden. Ohne tiefere Kenntnisse über das Verhalten von IQ-Tests bei Hoch- und Höchstbegabung kann die verlangsamte Bearbeitung der Aufgaben als Hinweis auf ADHS missverstanden werden.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass ADHS bei Hochbegabten ausgeschlossen ist – doch möglicherweise wird es häufiger vermutet, als tatsächlich der Fall ist. Hochbegabung und ADHS überschneiden sich in einigen Bereichen, und es ist wichtig, das komplexe Zusammenspiel zwischen Denkstil, Testverhalten und echter Diagnose genau zu verstehen, um eine fundierte und differenzierte Einschätzung vornehmen zu können.
Denk- und Lernstile von Hochbegabten
Im Abschnitt über IQ-Tests schon angedeutet, sollten Unterschiede im Denk- und Lernstil nicht unterschätzt werden. Gerade bei Hochbegabten kann ein dynamisches, divergentes Denken zu einer Fehldiagnose führen, insbesondere wenn der Fokus auf scheinbar oberflächlichen Beobachtungen der Aufmerksamkeitsfähigkeit oder der Strukturierung von Aufgaben liegt.
Hochbegabte zeigen oft ein starkes Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie in ihrem Denken und Lernen. Dieser Wunsch nach Eigenständigkeit wird häufig begleitet von einem visuell-räumlichen Lernstil, der auf Muster und Zusammenhänge im Großen zielt, bevor sich der Blick auf Einzelheiten richtet. Anders als in herkömmlichen Bildungs- und Diagnosesystemen erwartet, beginnen viele Hochbegabte ihre gedankliche Arbeit mit einer globalen Sichtweise und versuchen, daraus die Details zu erschließen. So entsteht der Eindruck, sie seien „abwesend“ oder „unaufmerksam“, weil sie nicht mit derselben Genauigkeit und Schritt-für-Schritt-Logik an Aufgaben herangehen wie andere oder womöglich auch vorgegebenen Wegen schlicht nicht folgen können.
Oftmals kann diese Herangehensweise bei Hochbegabten auch dazu führen, dass die eigene Kompetenz unterschätzt wird oder der Eindruck entsteht, es nicht „kapiert“ zu haben, weil ihnen das Gesamtbild noch fehlt. Dies ist allerdings ein Trugsschluss: Häufig wissen sie viel mehr als andere, doch sie haben einen anderen Anspruch als die meisten nicht hochbegabten Menschen. Sofern ihnen dieser Umstand nicht bewusst ist, führt dies regelmäßig dazu, dass sie ihre eigene Leistungsfähigkeit und ihr Wissen massiv unterschätzen.
In offenen und unstrukturierten Situationen, die kreatives und flexibles Denken erfordern, entfalten Hochbegabte ihr volles Potenzial. Sie fühlen sich hier nicht nur wohl, sondern zeigen sich vielfach als ausgesprochen produktiv. In strukturierten, regelorientierten Umfeldern – etwa in traditionellen Schulsystemen, die linear und kleinschrittig vorgehen – erleben sie hingegen häufig gleichzeitig Überforderung, Unterforderung und/oder Desinteresse. Letzteres ist für den Lernerfolg problematisch. Um etwas erfolgreich zu lernen, müssen wir es entweder sehr häufig wiederholen (was in der Tat nicht zu den Lieblingstätigkeiten von Hochbegabten gehört), oder es muss mit einer starken Emotion verknüpft werden. Folgt ein hochbegabter Mensch seinem natürlichen Wissensdurst, ist diese Emotion meist auch gegeben. Es wird mit Begeisterung und Freude gelernt.
Gerade weil sie vom Großen aufs Kleine schließen, wirken Hochbegabte in routinierten, repetitiven Aufgaben oft unmotiviert oder unkonzentriert und zeigen möglicherweise auch nicht die Leistungen, die man gemeinhin bei ihrem Potenzial vermuten würde. Diese Dynamik kann dazu führen, dass Lehrkräfte oder Eltern glauben, das Kind oder der junge Erwachsene könne sich nicht fokussieren oder lasse sich zu leicht ablenken – klassische Symptome von ADHS. Der divergente, assoziative, nicht-lineare Denkstil, der in vielen Fällen eine Stärke ist, wird in einem System, das lineares Arbeiten und Detailorientierung fordert, als Schwäche wahrgenommen.
Der Vollständigkeit halber möchte ich betonen, dass nicht alle Hochbegabte überwiegend zu einem divergenten Lernstil neigen. Es gibt auch Hochbegabte, die von Natur aus eher konvergent und Schritt-für-Schritt denken. Und dann gibt es natürlich noch jene, die in beiden Disziplinen herausragende Fähigkeiten besitzen.
Ein weiterer Faktor, der zu Missverständnissen und Fehldiagnosen beiträgt, ist die Neigung hochbegabter Personen, sich selektiv für Themen zu begeistern. Sie sind oft tief in jene Bereiche versunken, die sie faszinieren, und können dort eine bemerkenswerte Ausdauer und Fokussierung aufbringen. In anderen Themenfeldern zeigen sie hingegen wenig Interesse und wirken unaufmerksam oder zerstreut.
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die gesamte Persönlichkeit und den Denkstil einer Person zu betrachten, anstatt sich nur auf oberflächliche Verhaltensmuster zu fokussieren. Die eigentliche Stärke vieler hochbegabter Menschen liegt in ihrer Fähigkeit, sich komplexe Sachverhalte schnell zu erschließen und flexibel zwischen Themen zu wechseln, um die großen Zusammenhänge zu erkennen. Diese Denkweise benötigt jedoch mehr Freiheit und weniger Vorgaben, um sich optimal entfalten zu können – Anforderungen, die das klassische Bildungs- und Diagnosesystem oft nicht ausreichend berücksichtigt.
Mehr zu Denk- und Lernstilen bei Hochbegabung: Linda Silverman „Upside-Down Brilliance“
Flow vs. Hyperfokus
Hyperfokus und Flow sind zwei Begriffe, die sich beide auf einen intensiven Zustand konzentrierter Aufmerksamkeit beziehen, sich jedoch in ihrem Ursprung und ihrer Auswirkung unterscheiden. Während „Flow“ als natürlicher, produktiver Zustand beschrieben wird, in dem sich hochbegabte Menschen vertieft auf eine Aufgabe einlassen, ist der Hyperfokus eine spezifische Erscheinung, die häufig mit ADHS assoziiert wird.
Hyperfokus beschreibt laut dem Begabungsforscher James T. Webb (2015) die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit extrem intensiv auf eine einzige Aufgabe zu richten. Menschen mit ADHS erleben Hyperfokus häufig bei besonders anregenden oder belohnenden Aktivitäten, wie zum Beispiel Computerspielen, actionreichen Filmen oder Sportereignissen, bei denen eine hohe Bildfolge das Interesse konstant aufrechterhält. In diesen Momenten ist das Gehirn auf einen starken Stimulus ausgerichtet und wird sozusagen „gefesselt“, weil dieser als besonders wertvoll und belohnend empfunden wird.
Im Gegensatz dazu steht der Flow-Zustand, den der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi (2014) als einen Zustand beschreibt, in dem Menschen tief in eine Aufgabe eintauchen und die Zeit vergessen. Dieser Zustand ist häufig mit einem intensiven Gefühl von Produktivität und Selbstbestätigung verbunden, besonders bei hochbegabten Personen. Flow tritt vor allem dann auf, wenn die Aufgabe optimal herausfordernd ist und Fähigkeiten beansprucht, die über Routine hinausgehen. Während der Hyperfokus oft nur auf stark belohnende oder aufregende Stimuli reagiert, ist Flow das Ergebnis von intrinsischem Interesse und Motivation.
Während des Flow-Zustands sowie auch während des Hyperfokus werden äußere Reize ausgeblendet, mitunter auch innere Reize, was dazu führt, das Essen, Trinken oder der Gang zur Toilette schlichtweg vergessen werden. Auch Menschen im Flow können manchmal Schwierigkeiten haben, sich aus diesem Zustand zu lösen („es ist ja so schön“) und dadurch über die eigenen Grenzen gehen. Im Gegensatz zum Hyperfokus ist es aber generell machbar(er), diesen Zustand zu regulieren und hinreichende Achtsamkeit zu erlernen, damit sich daraus gelöst werden kann.
Ein weiteres Phänomen, das Hyperfokus von Flow unterscheidet, ist die Perseveration. Bei Menschen mit ADHS kann es vorkommen, dass sie an einer Aufgabe hängen bleiben, weil sie Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit flexibel zu wechseln. Perseveration beschreibt dabei eine Form der Verhaftung, bei der die Person nicht auf Feedback aus ihrer Umgebung reagiert und auch dann an einer Strategie festhält, wenn sie nicht erfolgreich ist. Hochbegabte Menschen ohne ADHS können ebenfalls ein starkes Bedürfnis nach Beharrlichkeit zeigen, doch geschieht dies oft aus einem Gefühl von Eigenmotivation oder dem Wunsch, eine Aufgabe vollständig zu lösen. Bei ihnen wirkt das „Festhalten“ an einer Aufgabe eher wie ein natürlicher Ausdruck ihres starken Willens und weniger wie eine Inflexibilität im exekutiven Denken.
Menschen mit ADHS sind häufig stimulusgebunden, was bedeutet, dass ihre Aufmerksamkeit vor allem dann geweckt wird, wenn die Aufgabe ausreichend belohnend ist. Wenn das Belohnungssystem im Gehirn – insbesondere der Nucleus accumbens – stimuliert wird, können sie sich sehr intensiv konzentrieren, obwohl ihre Aufmerksamkeit in anderen Kontexten oft schwankt. So können ADHS-Betroffene oft stundenlang Computerspiele spielen oder andere stark stimulierende Aktivitäten ausführen, auch wenn das Ziel eigentlich eine andere, weniger belohnende Aufgabe wäre. Die Fähigkeit, sich in spezifischen Situationen zu konzentrieren, schließt ADHS also nicht aus; sie ist vielmehr eine Reaktion auf die Belohnung, die der jeweilige Stimulus bietet.
Ein weiteres Phänomen, das Hyperfokus von Flow unterscheidet, ist die Perseveration. Bei Menschen mit ADHS kann es vorkommen, dass sie an einer Aufgabe hängen bleiben, weil sie Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit flexibel zu wechseln. Perseveration beschreibt dabei eine Form der Verhaftung, bei der die Person nicht auf Feedback aus ihrer Umgebung reagiert und auch dann an einer Strategie festhält, wenn sie nicht erfolgreich ist. Hochbegabte Menschen ohne ADHS können ebenfalls ein starkes Bedürfnis nach Beharrlichkeit zeigen, doch geschieht dies oft aus einem Gefühl von Eigenmotivation oder dem Wunsch, eine Aufgabe vollständig zu lösen. Bei ihnen wirkt das „Festhalten“ an einer Aufgabe eher wie ein natürlicher Ausdruck ihres starken Willens und weniger wie eine Inflexibilität im exekutiven Denken.
Menschen mit Hochbegabung und ADHS sind häufig stimulusgebunden, was bedeutet, dass ihre Aufmerksamkeit vor allem dann geweckt wird, wenn die Aufgabe ausreichend belohnend ist. Wenn das Belohnungssystem im Gehirn – insbesondere der Nucleus accumbens – stimuliert wird, können sie sich sehr intensiv konzentrieren, obwohl ihre Aufmerksamkeit in anderen Kontexten oft schwankt. So können ADHS-Betroffene oft stundenlang Computerspiele spielen oder andere stark stimulierende Aktivitäten ausführen, auch wenn das Ziel eigentlich eine andere, weniger belohnende Aufgabe wäre. Die Fähigkeit, sich in spezifischen Situationen zu konzentrieren, schließt ADHS also nicht aus; sie ist vielmehr eine Reaktion auf die Belohnung, die der jeweilige Stimulus bietet.
Während Flow einen Zustand natürlicher, zielgerichteter Vertiefung darstellt, ist der Hyperfokus oft weniger steuerbar und kann zu Schwierigkeiten führen, wenn die betroffene Person ihre Aufmerksamkeit auf andere Aufgaben umleiten soll. Im schulischen oder beruflichen Kontext, wo schnelles Wechseln zwischen Themen und Aufgaben erforderlich ist, kann Hyperfokus ein Hindernis sein. Bei hochbegabten Menschen hingegen ist das Festhalten an einer Aufgabe oft eher eine Frage des Interesses und der Motivation als der Inflexibilität, was einen konstruktiven Fokus auf komplexe Problemlösungen ermöglicht.
Hyperfokus und Flow mögen auf den ersten Blick ähnlich wirken, da beide Zustände ein tiefes Einlassen auf eine Aufgabe ermöglichen. Doch während Flow meist produktiv und motiviert ist, wird Hyperfokus häufig durch externe, stark belohnende Stimuli ausgelöst und kann für Menschen mit ADHS hinderlich sein, wenn flexible Aufmerksamkeitswechsel erforderlich sind. Das Verständnis dieser Unterschiede kann helfen, individuelle Stärken und Schwächen besser zu erkennen und entsprechend zu fördern.
Unterforderung oder ADHS?
Unterforderung bei Hochbegabung führt zu weitreichenden Konsequenzen, die häufig übersehen oder unterschätzt werden. Menschen mit Hochbegabung, die in einem unpassenden System agieren, erleben oft innere Unruhe, Langeweile und Frustration. Diese Zustände können sich in Unaufmerksamkeit, impulsivem Verhalten oder scheinbarer Hyperaktivität äußern – Verhaltensweisen, die leicht mit ADHS verwechselt werden können.
Das ständige Gefühl, nicht gefordert zu sein, kann zudem zu Motivationsverlust, Leistungsabfall und einer negativen Selbstwahrnehmung führen. Hochbegabte benötigen Herausforderungen, um ihr Potenzial zu entfalten. Bleiben diese aus, entsteht ein Gefühl der Isolation, da sie ihre Umgebung oft als nicht nachvollziehend oder unterstützend wahrnehmen.
Anders als gemeinhin angenommen, ist Hochbegabung nicht automatisch mit Hochleistung gleichzusetzen. Erfolg und Engagement treten nur dann auf, wenn die Umwelt passende Bedingungen bietet. Fehlen diese, kann die kognitive und emotionale Diskrepanz zwischen dem Individuum und seiner Umgebung zu ernsthaften Problemen führen – von Desinteresse über Lernängste bis hin zu psychosomatischen Beschwerden (mehr dazu: Unterforderung und die Folgen).
Phasen der Unterforderung
Kommt es nun zu einer langanhaltenden Unterforderung, der nicht entgangen werden kann, passiert Folgendes:
Das Gehirn ist darauf programmiert, nach Stimulation zu suchen, die es fordert und befriedigt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Menschen mit hoher oder höchster Begabung, deren Nervensystem mehr kognitive Nahrung benötigt, um optimal zu funktionieren. Fehlen diese Reize, schüttet das Gehirn weniger Dopamin aus, was zu einem Gefühl der Frustration und Langeweile führt.
Es entsteht ein Mismatch zwischen Erfahrung und Realität. Paradoxerweise kann Unterforderung zu einer Art innerer Reizüberflutung führen. Das Nervensystem beginnt, die wenigen vorhandenen Reize zu intensiv wahrzunehmen, weil es versucht, irgendwie „Beschäftigung“ zu finden.
In Erwartung einer spannenden Aufgabe haben das Gehirn und der Körper Energie für kognitive und emotionale Prozesse bereitgestellt, die aber nicht gebraucht werden. Diese überschüssige Energie wird nicht abgebaut und kann in Form von innerer Unruhe, Anspannung oder Gereiztheit auftreten. Das ist Stress für das autonomes Nervensystem.
Chronische Unterforderung signalisiert dem Gehirn ständig, dass etwas „falsch“ ist. Dieser unterschwellige Alarmzustand aktiviert das Stresssystem (HPA-Achse), wodurch Cortisol ausgeschüttet wird. Langfristig kann das die Fähigkeit des Gehirns, Belohnung zu empfinden, beeinträchtigen, was den Stress noch verstärkt.
Psychologisch ist es auch einfach frustrierend, wenn deine Talente, Interessen und Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Diese Frustration wird im Gehirn als Bedrohung wahrgenommen – ähnlich wie Hunger oder Gefahr – und triggert das Stresssystem.
Zukünftig wird es immer schwieriger, für Aufgaben genug Motivation und Interesse aufzubringen, wodurch eine langfristig stark unterforderte Person nicht mehr aus diesem Teufelskreis entfliehen kann. Das System muss immer härter arbeiten, um überhaupt etwas zu tun – das erzeugt wieder Stress (wenn du mehr darüber erfahren möchtest, empfehle ich dir den Artikel vom Begabungsdiagnostiker Thomas Eckerle: ADS und Hochbegabung).
Ist das der Fall, kann sich die betroffene Person manchmal nur noch dann konzentrieren, wenn sie ihr System künstlich unter Stress setzt, sofern sie die Selbststeuerungsfähigkeiten dazu besitzt. Diese Fähigkeit ist im Grunde eine Ressource, doch wird ein hoher Preis damit gezahlt. Denn dieser Stress wirkt sich neben dem Stress, der sowieso schon aus der Unterforderung entstanden ist, negativ auf ihre Gesundheit aus.
Dieser Stress wiederum kann zahlreiche Probleme wie zum Beispiel psychosomatische Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Migräne, Gefühl von Atemnot, Kreislaufprobleme, Erschöpfung, Schlafstörungen) mit sich ziehen. Auch andere Erkrankungen können durch chronischen Stress begünstigt oder auch verschlechtert werden, wie zum Beispiel Autoimmunkrankheiten, Asthma, Fibromyalgie, Neurodermitis, Reizdarmsyndrom, Diabetes Typ 2, Schilddrüsenüber- und unterfunktion, Hormonprobleme, Endometriose, Schlafstörungen, Depressionen, Angststörungen, Burnout-Syndrom, chronisches Fatiguesyndrom, etc.
Vor diesem Hintergrund muss das Leid, dass durch Unterforderung entstehen kann oder entstanden ist, wirklich ernst genommen werden!
ADHS-Symptome und die Regulation des Nervensystems
Spannenderweise gehört in jede gute ADHS-Therapie das Erlernen von Entspannungstechniken. Es ist gut belegt, dass eine Regulation des autonomen Nervensystems ADHS-Symptome lindern kann. Dies ist auch nur logisch: Unter Stress wird bei allen Menschen der präfrontale Cortex gehemmt.
Dieser Bereich des Gehirns ist jedoch entscheidend für Funktionen wie Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Planung – genau die Bereiche, die bei ADHS beeinträchtigt sind. Durch Techniken wie Atemübungen, Meditation oder Biofeedback kann das Nervensystem in einen ausgeglicheneren Zustand gebracht werden, wodurch die Aktivität des präfrontalen Cortex gefördert wird. Dies ermöglicht eine bessere Selbststeuerung und kann helfen, impulsives oder ablenkbares Verhalten zu reduzieren.
(Übrigens: Natürlich funktioniert Meditation nicht für Jedermann. Bei traumatisierten Menschen kann Meditation ungünstig wirken, da sie einen Freeze-Zustand verstärken kann. Hier ist ein stärkender, therapeutischer Rahmen wichtig. Aber auch sonst höre ich oft von Klienten, dass sie nicht meditieren könnten. Nun, Meditation braucht Übung. Die wenigsten Menschen können, zumindest ohne hinreichende Übung, die Gedanken einfach abschalten. In dem Sinne darf man die Meditation dann auch als Training begreifen. Und ja, manchmal fühlt sich das nicht angenehm an, so wie auch ein körperliches Training nicht immer angenehm ist. Zu lernen den Stress zu regulieren ist oftmals ein langwieriges Unterfangen, das nicht einfach, aber dennoch immer lohnenswert ist. Ob nun mit Meditation oder auch mit anderen Methoden.)
Ist es nun ADHS oder Unterforderung?
Es ist durchaus möglich, dass Hochbegabung und ADHS gleichzeitig vorliegen. Viele Fachpersonen im Bereich Hochbegabung vertreten jedoch die Ansicht, dass in solchen Fällen oftmals (nicht immer!) kein tatsächliches ADHS vorliegt, sondern Aspekte der Hochbegabung missverstanden werden. Stattdessen zeigen sich ADHS-ähnliche Symptome, die verschwinden oder sich deutlich verbessern, sobald ein wirklich begabungsförderliches Umfeld geschaffen wird. Allerdings wird oft unterschätzt, was eine wirklich förderliche Umgebung für Hochbegabte ausmacht. Häufig gelten Umfelder als „geeignet“, die die tatsächlichen Anforderungen an Hochbegabte nicht annähernd erfüllen, wodurch die Problematik weiterbesteht. Bei einer Höchstbegabung ist es zudem nochmal schwieriger, die richtigen Umstände zu schaffen.
Langfristige Unterforderung kann zudem Spuren im Nervensystem hinterlassen. Der durch sie entstandene chronische Stress ist nicht einfach durch ein besseres Umfeld sofort auflösbar. In vielen Fällen hat sich dieser Stress tief ins Nervensystem eingebrannt und zeigt sich in Form von automatisch ablaufenden Reaktionen, die wie eine Art Trauma wirken. Diese Muster zu durchbrechen und das Nervensystem langfristig in Balance zu bringen, erfordert Zeit und gezielte therapeutische Ansätze.
Hochbegabung unter Unterforderung und chronischem Stress | ADHS (Hyperaktiv-Impulsiv) | ADHS (vorwiegend unaufmerksamer Typus) | |
Hauptproblem | Chronischer Stress durch Unterstimulation und Frustration | Impulsivität, Hyperaktivität | Aufmerksamkeitsprobleme |
Dopaminprobleme | Sekundär durch Stress; reduzierte Belohnungssensitivität | Primär neurologisch, reduzierte Dopaminproduktion oder -verwertung | Primär neurologisch, reduzierte Dopaminproduktion oder -verwertung |
Stimulation notwendig | Ja, durch passende kognitive Herausforderungen | Ja, durch gezielte Aufgaben und Bewegung | Ja, durch klare, strukturierte Aufgaben |
Reaktion auf Unterforderung | Frustration, innere Unruhe, Tagträume, „Pseudodepression“ | Hyperaktivität oder Rückzug | Rückzug, Tagträume |
Belohnungssystem | Erfordert stärkere Belohnungsreize aufgrund hoher kognitiver Ansprüche | Ungleichgewicht, schnelle Langeweile | Ungleichgewicht, geringe Belohnung durch Routineaufgaben |
Emotionale Symptome | Frustration, Reizbarkeit, innere Leere | Reizbarkeit, Impulsivität | Überempfindlichkeit, Rückzug |
Stressreaktion (HPA-Achse) | Überaktiv; chronischer Stress verstärkt Dysbalance | Überaktiv; verstärkt Symptome | Überaktiv; verstärkt Symptome |
Hyperfokus | Kann auftreten bei spannenden Themen, meistens besser kontrollierbar als bei ADHS | Häufig, bei Interessenbereichen | Häufig, bei Interessenbereichen |
Impulskontrolle | Meist intakt, aber durch Stress und Frustration beeinträchtigt | Häufig beeinträchtigt | Meist intakt, aber verlangsamte Reaktionen |
Aufmerksamkeit | Selektive Aufmerksamkeit, stark abhängig von Interesse und Herausforderung | Sehr sprunghaft, stark ablenkbar | Stark beeinträchtigt, oft träumerisch |
Langfristige Auswirkungen | Erschöpfung, psychosomatische Beschwerden, „Pseudodepression“, Jobhopping | Erhöhtes Risiko für emotionale und berufliche Schwierigkeiten | Erhöhtes Risiko für emotionale und berufliche Schwierigkeiten |
Therapieansätze | Stressregulation, begabungsgerechte Förderung, Neurofeedback | Verhaltenstherapie, ggf. Stimulanzien, Stressregulation, Neurofeedback | Verhaltenstherapie, ggf. Stimulanzien, Stressregulation, Neurofeedback |
Andere Ursachen für ADHS-ähnliches Verhalten
ADHS-ähnliches Verhalten kann eine Vielzahl von Ursachen haben, die nicht direkt mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zusammenhängen, aber ähnliche Symptome hervorrufen. Oftmals entsteht der Eindruck, dass eine Person unter ADHS leidet, obwohl die Ursachen ihrer Schwierigkeiten ganz woanders liegen. Neben Unterforderung, die bei hochbegabten Personen häufig ADHS-ähnliche Symptome verursacht, können auch andere Faktoren eine Rolle spielen, etwa die umgelernte Linkshändigkeit.
Chronischer Stress
Chronischer Stress, wie er durch langanhaltende Unterforderung, aber auch andere Faktoren wie soziale Isolation oder emotionale Belastungen entstehen kann, führt bei hochbegabten Menschen häufig zu Symptomen, die denen von ADHS ähneln. Obwohl diese Ähnlichkeiten leicht zu Fehldiagnosen führen können, liegen den Symptomen unterschiedliche Ursachen zugrunde.
Stress beeinträchtigt auch die exekutiven Funktionen, die für Planung, Priorisierung und Flexibilität zuständig sind. Unter chronischer Belastung können hochbegabte Menschen Schwierigkeiten haben, zwischen Aufgaben zu wechseln oder zielgerichtet zu arbeiten – Symptome, die oft als ADHS interpretiert werden. Anders als bei ADHS treten diese Probleme jedoch situativ auf und verbessern sich, sobald die Stressfaktoren beseitigt sind.
Liegt allerdings ein allgemein chronisch erhöhtes Stresslevel vor, wie zum Beispiel bei Entwicklungstrauma (und man kann sich die Frage stellen, ob eine Nichtförderung der Hochbegabung und damit einhergehend eine massive jahrelange Unterforderung durch die starke Vernachlässigung der Bedürfnisse des hochbegabten Kindes nicht auch zu einem Entwicklungstrauma führen können), gibt es diese situativen Unterschiede womöglich nicht.
Während hochbegabte Personen mit ADHS dauerhaft unter Aufmerksamkeitsproblemen und Impulsivität leiden, zeigen hochbegabte ohne ADHS diese Symptome vor allem in belastenden Kontexten. Die Unterscheidung ist entscheidend, da sie unterschiedliche Herangehensweisen bei der Unterstützung erfordert.
Umgelernte Linkshändigkeit
Wenn Menschen in ihrer Kindheit zur Rechtshändigkeit umtrainiert wurden, obwohl sie eigentlich Linkshänder sind, kann dies das Gehirn und die Entwicklung der motorischen und kognitiven Funktionen erheblich beeinflussen. Studien zeigen, dass das Umtrainieren von Linkshändigkeit zu einer verstärkten kognitiven Belastung führen kann, da das Gehirn zusätzlich Ressourcen benötigt, um sich an die ungewohnte Händigkeit anzupassen. Dieser Aufwand kann die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und zu innerer Unruhe führen, was wiederum Verhaltensweisen wie Impulsivität und Hyperaktivität begünstigt – Symptome, die leicht mit ADHS verwechselt werden können.
In der Praxis ist mir aufgefallen, dass betroffene Personen innerhalb der TOP-Diagnostik ein merkwürdig inkohärentes Bild zeigten. Ist ist, als würde im System der Person etwas grundlegend nicht zueinander passen. Lange Zeit habe ich selbst die Auswirkungen der umgelernten Linkshändigkeit unterschätzt, bis ich die Vorher-Nachher-Vergleiche bei Klienten sehen konnte, die sich während einer langfristigen Begleitung umschulen ließen. Eine deutliche Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, ein Verschwinden der Lese-Rechtschreib-Schwäche und eine Stabilisierung der Gemütslage, die sich in einer Linderung der Gefühle von Unsicherheit und einer starken Zunahme des Selbstvertrauens zeigte.
Depression, Angst und Hyperarousal
Depression und Angst sind weitere Gründe, die das Verhalten und die Konzentrationsfähigkeit einer Person stark beeinflussen können. Depressionen gehen häufig mit Motivations- und Aufmerksamkeitsproblemen einher, während Ängste zu einer übermäßigen Wachsamkeit und inneren Unruhe führen, was ADHS-ähnliche Symptome verstärken kann. Auch chronischer Stress, wie er insbesondere bei einer Hochsensibilität oder einer Höchstbegabung (Brackmann 2020) vorliegen kann, ist in der Lage, Konzentrationsprobleme bis hin zu impulsivem Verhalten hervorzurufen.
Während ADHS oft mit Depressionen einhergeht, zeigt sich bei Depressionen ohne ADHS mit der Einnahme von Antidepressiva üblicherweise eine deutliche Verbesserung, während dies bei Depressionen mit ADHS nicht der Fall ist und hier eine Besserung erst bei kombinierter Behandlung mit Stimulanzien zu sehen ist (Krause & Krause, 2014).
Traumatische Erlebnisse können darüber hinaus zu einer erhöhten Erregbarkeit (Hyperarousal) führen, die die Fähigkeit zur Selbstregulation und Konzentration beeinträchtigt (Grüber, 2021).
Overexcitabilities
Overexcitabilities (OEs), ein Konzept aus der Theory of Positive Disintegration von Dabrowski können ebenfalls zu ADHS-Fehldiagnosen führen. Viele Hochbegabte weisen einige bis hin zu alle der beschriebenen Overexcitabilities auf. Diese erhöhten Sensitivitäten äußern sich in einer gesteigerten Wahrnehmung, intensiven Emotionen und/oder einem ausgeprägten Bewegungsdrang – Eigenschaften, die leicht mit typischen ADHS-Symptomen wie Hyperaktivität, Ablenkbarkeit oder einer erhöhten emotionalen Impulsivität verwechselt werden können. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass OEs meist kontextabhängig auftreten und bei passender Förderung als Ressource dienen. Mehr dazu in meinem Artikel über die fünf Overexcitabilities.
Weitere Ursachen
Neben den genannten Ursachen gibt es noch diverse weitere Phänomene, die zu Verhaltensweisen führen können, die an ADHS erinnern. Hierzu gehören z. B. eine Störung der Schilddrüsenfunktion, Wahrnehmungsstörungen (Friedrichs & Friedrichs, 2021) und Schädel-Hirn-Trauma.
Wenn es tatsächlich ADHS ist
Auch das liegt im Rahmen des Möglichen. Die Kinderärztin Helga Simchen sieht die Lage zum Thema Hochbegabung und ADHS etwas anders als Dr. Gerstenberger-Ratzeburg und der Begabungsforscher James T. Webb. „Die bisher oft vermutete Unterforderung ist in Wirklichkeit eine AD(H)S bedingte Überforderung als eigentliche Ursache des Versagens.“ (Simchen, 2022, S. 35).
Es ist nur logisch, dass ADHS bei einer Hochbegabung dazu führen kann, dass das Potenzial nicht abgerufen werden kann. Aus meiner eigenen fachlichen Erfahrung halte ich es jedoch für unwahrscheinlich, dass immer ADHS die Grundlage ist. Zu oft habe ich bei Klienten eine deutliche Besserung der Symptomatik bei einer Besserung der Umweltmerkmale miterlebt. Zudem sehe ich oft, dass sowohl hochbegabte Kinder als auch Erwachsene mit einer vermeintlichen ADHS-Symptomatik vorgestellt werden, die ich als „hochbegabt mit Schwierigkeiten in der Selbststeuerung“ beschreiben würde, die oftmals durch einfache (oder auch komplexere) Maßnahmen gebessert werden kann.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass aus meiner Perspektive, die ich mit vielen Begabungsforschern, -Diagnostikern und Fachpersonen im Bereich der Hochbegabung teile, das durch die Medien verbreitete Bild einer hochfunktionellen Hochbegabung in vielerlei Hinsicht völlig überzogen ist. Dieses Bild sorgt dann wiederum dafür, dass hemmende Faktoren und Probleme in der Selbststeuerung vergrößert gesehen werden, obwohl es sich um ganz menschliche Verhaltensweisen handelt, die oftmals durch kleine, gezielte Anpassungen schon Besserung finden.
Nichtsdestotrotz gibt es aber auch jene, bei denen Hochbegabung und ADHS parallel vorliegen. Eine Hochbegabung kann ein ADHS auch verschleiern, da besondere Stärken, die üblicherweise mit einer Hochbegabung einhergehen, wie zum Beispiel eine gute Selbstregulation (Calero et al., 2007), ausgleichend auf eine ADHS-Symptomatik wirken können.
Besteht der begründete Verdacht auf ADHS bei Hochbegabung, sollte der Weg zu einem Facharzt mit Spezialisierung auf ADHS beschritten und die Diagnostik in Angriff genommen werden. Wichtig ist dabei, dass die Hochbegabung unbedingt erwähnt wird!
Merkmale von Hochbegabten mit ADHS
Hochbegabung in Kombination mit ADHS zeigt sich je nach Subtyp unterschiedlich und hebt sich in der Symptomatik klar ab. Beim hyperaktiven Typ überwiegen Unruhe, Impulsivität und eine sprunghafte Konzentration, die von Hyperfokusphasen durchbrochen wird. Diese Personen können bei interessanten Aufgaben Höchstleistungen erbringen, verlieren jedoch bei Routinen schnell die Geduld oder neigen zu chaotischem Vorgehen. Emotionale Reizbarkeit und Schwierigkeiten im Zeitmanagement sind typisch, wobei der innere Antrieb oft durch externe Zeitdrucksituationen entsteht (Anmerkung: Nur bei starkem Zeitdruck arbeiten zu können, kann allerdings auch bei Hochbegabten vorkommen. Hier wird so lange gewartet, bis der Stress hoch genug ist, um dann das Momentum zu nutzen und konzentriert, oft auch die Nacht hindurch arbeitend, die Aufgabe zu erledigen).
Beim unaufmerksamen Typ sind die Symptome subtiler und weniger körperlich sichtbar. Diese Menschen wirken träumerisch, zerstreut und haben Schwierigkeiten, bei uninteressanten Aufgaben „am Ball“ zu bleiben. Routinen und Selbstorganisation fallen schwer, weil die kognitive Energie oft durch eine innere Nervosität gebunden wird. Der unaufmerksame Typ zeigt im Gegensatz zum kombinierten Typ weniger impulsive Verhaltensweisen, kann jedoch ebenfalls an abrupten Leistungsschwankungen und ineffizienter Arbeitsweise leiden.
Beide Subtypen sind durch spezifische Schwierigkeiten geprägt, die nicht allein durch ihre hohe intellektuelle Kapazität erklärt werden können. Die Symptome reichen über typische Verhaltensweisen von Hochbegabten hinaus und zeigen sich auch in Kontexten, die nicht von Unterforderung geprägt sind.
Hochbegabung + ADHS (hyperaktiver Typ) | Hochbegabung + ADHS (unaufmerksamer Typ, früher ADS) | |
Unruhe und Impulsivität | – Deutlich sichtbare körperliche und geistige Unruhe | – Nach außen ruhiger, aber mit innerer Unruhe |
Konzentrationsprobleme | – Schwierigkeiten, sich auf langweilige Aufgaben zu fokussieren | – Konzentration auf Aufgaben bricht abrupt ab |
Emotionale Reizbarkeit | – Häufige und plötzliche emotionale Ausbrüche | – Emotionaler Rückzug und Grübeln bei Überforderung |
Hyperfokus | – Häufiger und intensiver | – Seltener, meist auf sehr spezifische Themen beschränkt |
Probleme mit Routinen | – Routinen werden als langweilig und einengend empfunden | – Routinen werden vergessen oder aufgeschoben, oft aus Desorganisation |
Zeitmanagement | – Zögerliches Starten, häufiges Umwerfen von Plänen | – Verzettelung bei Aufgaben, ineffiziente Nutzung von Zeit |
Vergesslichkeit | – Impulsive Entscheidungen führen zu ausgelassenen Details | – Vergessen von Terminen oder Anweisungen, oft ohne es zu bemerken |
Selbstorganisation | – Chaotisches Arbeiten trotz klarer Ziele | – Strukturierung wird häufig vernachlässigt |
Innere Unruhe | – Hohe Aktivierung, äußert sich oft in Hyperaktivität | – Innere Nervosität ohne sichtbare körperliche Aktivität |
Verschleierung durch HB | – Impulsivität wird als Kreativität oder Initiative missdeutet | – Zerstreutheit wird als kreativer Freigeist interpretiert |
Verschleierung der HB | – Hyperaktivität verdeckt intellektuelle Stärken | – Introversion und Zerstreutheit verdecken komplexe Gedanken |
ADHS-Diagnostik bei Hochbegabung
Die Diagnose von ADHS bei Hochbegabten ist eine besondere Herausforderung, da mehrere Faktoren die Erkennung erschweren können. Hochbegabte Menschen verfügen oft über starke kognitive Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, ADHS-Symptome bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren. Sie entwickeln beispielsweise Strategien, um Unaufmerksamkeit, Impulsivität oder organisatorische Schwierigkeiten zu überdecken, was dazu führen kann, dass ADHS weniger offensichtlich erscheint. Zudem können sie trotz chaotischer oder impulsiver Arbeitsweise beeindruckende Ergebnisse erzielen, wodurch die zugrunde liegenden Probleme leicht übersehen werden. Ihre starke Selbstreflexion und das Bewusstsein für ihre eigenen Schwächen tragen ebenfalls dazu bei, die Symptome zu „verschleiern“.
Ein weiterer Aspekt, der die Diagnostik erschwert, ist die mögliche Unterforderung, die bei Hochbegabten ähnliche Symptome wie ADHS hervorrufen kann, darunter Unruhe, Konzentrationsprobleme und mangelnde Motivation. Dies führt dazu, dass die zugrunde liegende ADHS-Symptomatik überlagert oder falsch interpretiert wird. Unterforderung und chronischer Stress können das Nervensystem zusätzlich aus dem Gleichgewicht bringen und die Symptome verstärken.
Auch standardisierte Tests sind oft nicht für Menschen mit einem IQ im Hochbegabungsbereich normiert. Hochbegabte schneiden in diesen Tests oft besser ab, obwohl sie dennoch unter ADHS leiden können. Zudem sind die Testfragen häufig nicht geeignet, die spezifische Wahrnehmung und Rationalisierung von Hochbegabten abzubilden. Diagnostiker, die nicht mit der Kombination von Hochbegabung und ADHS vertraut sind, neigen zudem dazu, entweder die Hochbegabung oder die ADHS-Symptome zu vernachlässigen. Vorurteile wie die Annahme, dass Hochbegabung ADHS ausschließt, oder ein zu starker Fokus auf die äußere Funktionalität ohne Berücksichtigung der inneren Kämpfe können zu Fehldiagnosen führen.
Die größte Schwierigkeit liegt letztlich darin, die Symptome klar zuzuordnen und zu erkennen, ob es sich um ADHS, die Folgen von Unterforderung oder eine Kombination aus beidem handelt. Dies erfordert eine differenzierte Betrachtung, die sowohl die Hochbegabung als auch die ADHS-Symptome angemessen berücksichtigt. Nur durch eine fundierte Diagnostik von Fachleuten, die beide Bereiche verstehen, kann sichergestellt werden, dass Betroffene die passende Unterstützung erhalten.
Hochleistungsmotor mit Sand im Getriebe: Die Auswirkungen von ADHS-Symptomen bei einer Hochbegabung
Hochbegabte Menschen mit ADHS erleben oft das Gefühl, dass „Sand im Getriebe“ ihres Lebens steckt. Obwohl sie über außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten verfügen, geraten sie durch die Symptome von ADHS regelmäßig in Schwierigkeiten, die sie davon abhalten, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Diese Diskrepanz zwischen Begabung und tatsächlicher Leistung führt häufig zu Frustration, Selbstzweifeln und einem Gefühl von Stillstand oder Versagen.
ADHS-Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation können dazu führen, dass Projekte unvollendet bleiben, wichtige Deadlines verpasst werden oder das Chaos im Alltag überhandnimmt. Gleichzeitig können hochbegabte Menschen durch ihre Intelligenz und Kreativität oft kurzfristige Lösungen finden, um solche Probleme zu überbrücken. Diese Überbrückungsstrategien erfordern jedoch viel Energie und verstärken langfristig das Gefühl von Überforderung. Es entsteht der Eindruck, dass sie trotz ihrer kognitiven Stärke ständig gegen unsichtbare Hindernisse ankämpfen müssen.
Das Bild des „Sandes im Getriebe“ trifft dabei nicht nur auf Hochbegabte mit ADHS zu, sondern kann auch bei Hochbegabten ohne ADHS auftreten, wenn diese chronisch unterfordert sind oder andere leistungsverhindernde Faktoren vorliegen. In beiden Fällen erleben Betroffene Schwierigkeiten, ihre Potenziale umzusetzen, und kämpfen mit innerer Unruhe, Frustration und mangelnder Motivation. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass ADHS-Betroffene diese Symptome unabhängig von ihrer Umgebung erleben, während sie bei unterforderten Hochbegabten stark von der Qualität des Umfelds abhängen. Unterforderung verstärkt den Stress und die Symptome, während ein begabungsförderliches Umfeld diese oft deutlich abmildern kann.
Bei Hochbegabten mit ADHS bleibt der Sand jedoch selbst in optimalen Bedingungen bestehen. Auch in einem Umfeld, das ihre Begabungen fördert, können sie mit Impulsivität, einer sprunghaften Arbeitsweise und der Schwierigkeit kämpfen, sich auf langfristige Ziele zu konzentrieren. Der innere Antrieb, der durch ihre hohe Intelligenz und ihre Interessen entsteht, wird durch die ADHS-bedingten Probleme immer wieder ausgebremst.
Diese ständige Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und Ergebnissen kann zu chronischem Stress und einem hohen Maß an Selbstkritik führen. Betroffene fühlen sich oft als „ihr eigener schlimmster Feind“, da sie zwar wissen, was sie erreichen könnten, sich aber immer wieder von ihrer Symptomatik behindert fühlen. Gleichzeitig verstärkt ADHS häufig ein negatives Selbstbild, das durch die gesellschaftliche Erwartung, als Hochbegabte problemlos funktionieren zu müssen, noch verschärft wird.
Die Auswirkungen zeigen sich nicht nur im beruflichen und akademischen Bereich, sondern auch in der Lebensqualität. Beziehungen können leiden, weil Betroffene zwischen intensiver Verbindung (z. B. im Hyperfokus) und Unaufmerksamkeit schwanken. Der Alltag kann durch ständige Organisationsprobleme chaotisch wirken, was nicht nur die eigene Psyche belastet, sondern auch das Umfeld beanspruchen kann.
Es ist entscheidend, diese Dynamik zu erkennen und sowohl die Hochbegabung als auch die ADHS-Symptome in den Blick zu nehmen. Während ein begabungsförderliches Umfeld für Hochbegabte ohne ADHS oft ausreicht, ist bei Hochbegabten mit ADHS eine Kombination aus spezifischen Interventionen wie Therapie, Coaching und ggf. medikamentöser Unterstützung notwendig, um den Sand aus dem Getriebe zu bekommen.
Schwierigkeiten in der Selbststeuerung: Mit und ohne ADHS
Seit Anfang 2022 bin ich lizenziert die an der Universität Osnabrück entwickelte TOP-Diagnostik/Potenzialanalyse zu verwenden. Mittels dieser Diagnostik können die Persönlichkeitsstile, Motive (bewusst und unbewusst) sowie die Selbststeuerungsfähigkeiten einer Person abgebildet werden. Diese Diagnostik ist als komplexes Ganzes zu verstehen, die mir erlaubt, tiefgehende Einblicke in die psychologische Struktur eines Menschen vorzunehmen. Meine Beratung suchen seit vielen Jahren diverse Menschen auf, die Probleme in der Selbststeuerung haben, die sich zum Beispiel in Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit, Prokrastination, Motivationsproblemen oder Erschöpfung zeigen können.
Auf Basis dieser Erfahrungen habe ich vielfach erlebt, dass Probleme in der Selbststeuerung durch ein gezieltes Training oder auch eine Bewältigung der zu Grunde liegenden Ursachen (zum Beispiel Persönlichkeitsstile als Bewältigungsstrategie für frühere Erfahrungen) gelöst werden konnten. Auch die Berücksichtigung der Motivstruktur hat weitreichende Auswirkungen. Die TOP-Diagnostik ist in der Lage, Diskrepanzen in der Selbsteinschätzung der Motive gegenüber wirklich emotional unterfütterten Motiven aufzuzeigen. Hierbei wird eine innovative Testmethode verwendet, welche die rechte Hirnhälfte, die uns Zugang zu unseren Emotionen ermöglicht, stärker aktivieren kann als rein sprachliche Aufgaben, wie sie ansonsten oft bei der Diagnostik der Motivstruktur angewendet werden.
Während von Hochbegabten oft auch eine Hochleistung erwartet wird, kann diese im regulären Schulsystem und in der Arbeitswelt häufig nur von stark extrinsisch leistungsmotivierten Personen erbracht werden. Hochbegabte sind jedoch oft eher intrinsisch motiviert (Lehwald, 2017) und fallen durch eine besondere Wissbegierde auf. Zudem erlebe ich in der Praxis, dass viele Hochbegabte eine starke Freiheitsmotivation aufbringen, was angesichts der Persönlichkeitsstruktur von Hochbegabten auch nur verständlich ist.
Oftmals braucht es nur ein paar kleine Kniffe, um emotional unterfütterte Motive in den eigenen Alltag einzubringen, so dass mittels kleiner Veränderungen Probleme in der Selbststeuerung nahezu völlig umgangen werden können.
Ein kleines Beispiel: In der Beratung mit einer tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherpapeutin fiel uns ihr starkes Freiheitsmotiv auf. Für ihre Arbeit wäre allerdings ein Machtmotiv günstiger gewesen (Helfen fällt auch unter das Machtmotiv). Wir reflektierten, dass sie ihr Freiheitsmotiv stärker leben könnte, wenn sie sich in eine Tätigkeit begeben würde, in der sie als Person sich stärker einbringen dürfte (in der Tiefenpsychologie hält sich der Therapeut schließlich sehr zurück, um als Projektionsfläche für die Patienten dienen zu können). Sie entschied sich, dass die Tätigkeit als Coach viel besser zu ihr passe, da sie hier mit Ihrer Persönlichkeit und Ihren Werten anwesend sein darf – und nicht nur das, dies sogar gewünscht ist!
Während von Hochbegabten oft auch eine Hochleistung erwartet wird, kann diese im regulären Schulsystem und in der Arbeitswelt häufig nur von stark extrinsisch leistungsmotivierten Personen erbracht werden. Hochbegabte sind jedoch oft eher intrinsisch motiviert (Lehwald, 2017) und fallen durch eine besondere Wissbegierde auf. Zudem erlebe ich in der Praxis, dass viele Hochbegabte eine starke Freiheitsmotivation aufbringen, was angesichts der Persönlichkeitsstruktur von Hochbegabten auch nur verständlich ist.
Oftmals braucht es nur ein paar kleine Kniffe, um emotional unterfütterte Motive in den eigenen Alltag einzubringen, so dass mittels kleiner Veränderungen Probleme in der Selbststeuerung nahezu völlig umgangen werden können.
Ein kleines Beispiel: In der Beratung mit einer tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherpapeutin fiel uns ihr starkes Freiheitsmotiv auf. Für ihre Arbeit wäre allerdings ein Machtmotiv günstiger gewesen (Helfen fällt auch unter das Machtmotiv). Wir reflektierten, dass sie ihr Freiheitsmotiv stärker leben könnte, wenn sie sich in eine Tätigkeit begeben würde, in der sie als Person sich stärker einbringen dürfte (in der Tiefenpsychologie hält sich der Therapeut schließlich sehr zurück, um als Projektionsfläche für die Patienten dienen zu können). Sie entschied sich, dass die Tätigkeit als Coach viel besser zu ihr passe, da sie hier mit Ihrer Persönlichkeit und Ihren Werten anwesend sein darf – und nicht nur das, dies sogar gewünscht ist!
Solche Veränderungen können dazu führen, dass eine Tätigkeit keine Energie mehr zieht, sondern Energie gibt. Anstatt zu versuchen, sich für äußere Umstände passend zu machen, wählte sie den Weg, die äußeren Umstände für sich passend zu machen. Ein äußerst mutiges Vorgehen.
Mehr zum Thema: TOP-Diagnostik/Potenzialanalyse. Die Vollversion der Diagnostik ist ab 18 Jahren verfügbar. Für Kinder und Jugendliche stehen Lernkompetenztests zur Verfügung.
Fazit
Ich bin kein Freund der konsequenten Verteufelung des einen oder anderen Weges. Für manche Menschen ist der Gang zur ADHS-Diagnostik wichtig und notwendig. Liegt ADHS tatsächlich vor, kann eine gezielte Behandlung den Leidensdruck erheblich reduzieren. Hierfür gibt es moderne multimodale Therapiekonzepte, deren Wirksamkeit wissenschaftlich gut belegt ist. Allerdings zeigt mir meine Erfahrung auch, dass viel zu oft ADHS vermutet wird, wo (wahrscheinlich) keines vorliegt. Ich empfehle, das Phänomen Hochbegabung wirklich zu verstehen und erlebe regelmäßig, dass dies auch bei scheinbar gut informierten Personen nicht der Fall ist. Die Auswirkungen einer Hoch- und Höchstbegabung werden meiner Beobachtung nach in unseren Breitengraden systematisch massiv unterschätzt.
Literatur:
Brackmann, Andrea (2020). Extrem begabt. Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies. Klett-Cotta.
Csíkszentmihályi, Mihály (2014). Flow. Das Geheimnis des Glücks (14. Aufl.). Klett-Cotta.
Friedrichs, Petra; Friedrichs, Edgar (2021). Es muss nicht immer ADHS sein. Klett-Cotta.
Gerstenberger-Ratzeburg, Beate (2019). Diagnoseteufel. Hochbegabung oder Krankheit? BoD – Books on Demand.
Grüber, Isa (2021). Was der Körper zu sagen hat. Mankau Verlag GmbH
Krause, Johanna; Krause, Klaus-Henning (2014). ADHS im Erwachsenenalter. Schattauer.
Lehwald, Gerhard (2017). Motivation trifft Begabung. Hogrefe.
Preckel, Franzis; Vock, Miriam (2013). Hochbegabung. Ein Lehrbuch zu Grundlagen, Diagnostik und Fördermöglichkeiten. Hogrefe.
Reichardt, Eliane (2018). Hochbegabt?. Irisiana.
Simchen, Helga (2022). AD(H)S und Hochbegabung. Kohlhammer
Webb, James T. (2015). Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung. Hogrefe.
Calero, M. D., García-Martín, M. B., Jiménez, M. I., Kazén, M., & Araque, A. (2007). Self-regulation advantage for high-IQ children: Findings from a research study. Learning and Individual Differences, 17(4), 328–343.
https://link.springer.com/article/10.1007/s11469-019-00125-x