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Symbolbild Gehirn: Neurofeedback bei Hochsensiblen. Warum sie schneller zu Erschöpfung neigen.
Lesedauer 5 Minuten

Es gibt Menschen, deren Wahrnehmung wie ein fein abgestimmtes Instrument funktioniert. Sie hören Zwischentöne, spüren Atmosphären, bemerken kleinste Veränderungen. Vielleicht gehörst du zu diesen Menschen. Vielleicht hast du dich schon oft gefragt, warum du scheinbar banale Situationen als anstrengend empfindest, warum dir soziale Interaktionen manchmal zu viel werden, obwohl du andere gern hast. Oder warum du nach einem Tag mit vielen Reizen einfach erschöpft bist, auch wenn gar nichts besonders aufregendes passiert ist.

Diese Empfindsamkeit wurde lange missverstanden. Als Schwäche, Empfindlichkeit, mangelnde Belastbarkeit. Heute wissen wir: Hochsensibilität ist keine Störung, sondern eine Form der tieferen, feineren Verarbeitung. Und sie ist messbar.

In den letzten Jahren hat die Forschung begonnen, genau hinzusehen. Eine der spannendsten Studien der letzten Zeit stammt von Meinersen-Schmidt et al. (2023). Sie zeigt, dass sich das Gehirn hochsensibler Menschen tatsächlich anders verhält. Nicht pathologisch, sondern reaktiver. Bei offenen Augen und alltäglicher Reizaufnahme laufen bestimmte Frequenzen im Gehirn intensiver. Das bedeutet: Die Welt „kommt stärker an“. Und das erklärt viel. Denn es ist kein Zufall, dass gefühlt 90 % der hochsensiblen Interessent:innen mit einem Thema zu mir kommt: Erschöpfung.

In diesem Artikel geht es nicht nur um die Studie selbst, sondern vor allem um das, was sie für deinen Alltag bedeutet. Darum, wie du dich besser verstehen kannst und warum dein Bedürfnis nach Rückzug nicht nur legitim, sondern neurophysiologisch sinnvoll ist. Es geht um Reizpausen, um Ruhe als Ressource und um die Kraft, die in einem feinfühligen Nervensystem steckt, wenn es richtig begleitet wird.

Vielleicht entdeckst du dich in diesen Zeilen wieder. Vielleicht erkennst du Muster, die du lange nicht einordnen konntest. Und vielleicht wirst du am Ende mit etwas mehr Selbstverständnis, mehr Freundlichkeit dir selbst gegenüber und einer konkreten Idee davon, wie du dein sensibles Nervensystem im Alltag unterstützen kannst, aus diesem Text gehen.

Eine EEG-Studie

In der Studie von Meinersen-Schmidt et al. wurde ein EEG (Elektroenzephalogramm) eingesetzt, um die Hirnaktivität hochsensibler Personen im Ruhezustand zu messen. Ein EEG ist ein nicht-invasives Verfahren, bei dem über kleine Elektroden auf der Kopfhaut die elektrischen Impulse des Gehirns erfasst werden. Diese elektrischen Signale entstehen durch die Aktivität von Nervenzellen, vor allem dann, wenn viele Neuronen synchron feuern. Das EEG übersetzt diese Aktivität in sogenannte Hirnwellen, die je nach Frequenz in verschiedene Bänder unterteilt werden: Delta (0,5–4 Hz), Theta (4–8 Hz), Alpha (8–12 Hz), Beta (12–30 Hz) und Gamma (über 30 Hz). Jede dieser Frequenzen steht für bestimmte Zustände: Während Alpha mit entspannter Wachheit assoziiert ist, spiegelt Beta aktive Aufmerksamkeit oder mentale Anstrengung wider, und Gamma wird mit komplexer Verarbeitung, Integration und bewusster Wahrnehmung in Verbindung gebracht.

Was das EEG besonders macht: Es zeigt nicht nur wie viel Aktivität im Gehirn herrscht, sondern auch wo (zumindest dann, wenn ein EEG-Gerät eingesetzt wird, das auch lokalisieren kann) also in welchen Hirnregionen bestimmte Frequenzen besonders stark ausgeprägt sind. So lassen sich z. B. Rückschlüsse darauf ziehen, ob jemand im Zustand der Ruhe innerlich angespannt ist, besonders wachsam, kreativ, überreizt oder tiefenentspannt. In dieser speziellen Studie wurde untersucht, ob Hochsensible im Ruhezustand bestimmte Aktivitätsmuster zeigen und genau das war der Fall: vor allem in bestimmten Hirnarealen, die mit Reizverarbeitung und Integration zu tun haben. Was das konkret bedeutet, erkläre ich dir im Folgenden.

Hochsensibilität: Unterschiede in den Gehirnwellen

Intuitiv spüren viele Hochsensible, wie wichtig Rückzug für sie ist und dann ist es besonders schön, wenn dies durch eine Studie bestätigt wird. Die Studie von Meinersen-Schmidt et al. (2023) zeigte bei Hochsensiblen im EEG erhöhte Aktivität im Beta2- und Gamma-Bereich in zentral-parietalen und temporalen Hirnregionen. Beta2-Wellen (16–30 Hz) stehen in Zusammenhang mit gesteigerter Wachsamkeit, innerer Anspannung und ständiger Umweltüberprüfung. Sie deuten darauf hin, dass das Gehirn bereits im neutralen Zustand auf Empfang geschaltet ist. Reize werden ständig gescannt, bewertet und abgespeichert. Gamma-Wellen (30–100 Hz) wiederum reflektieren eine hohe sensorische Integration. Das Gehirn versucht, Sinneseindrücke zu verknüpfen, emotionale Bedeutung zu erkennen und alles zu einem kohärenten Bild zusammenzusetzen. Bei Hochsensiblen ist dieser Prozess intensiver, sie nehmen nicht nur mehr wahr, sondern verarbeiten es auch tiefgehender.

Mehr Verarbeitung mit geöffneten Augen

Das bedeutet für den Alltag: Hochsensible verarbeiten mehr gleichzeitig, auch wenn sie äußerlich inaktiv wirken. Normale Umgebungen können dadurch bereits stimulierend genug sein, um ein erhöhtes Grundspannungsniveau zu erzeugen. Besonders in Umgebungen mit vielen Reizen (visuell, auditiv, sozial) laufen Beta2- und Gamma-Aktivität auf Hochtouren, was erklärbar macht, warum viele Hochsensible sich nach scheinbar „harmlosen“ Situationen zu Erschöpfung neigen oder reizüberflutet fühlen.

Interessanterweise tritt dieser Effekt nur mit offenen Augen auf. Mit geschlossenen Augen zeigten Hochsensible in der genannten EEG-Studie keine signifikant erhöhte Beta- oder Gamma-Aktivität im Vergleich zu weniger Sensiblen. Das spricht sehr stark dafür, dass Hochsensibilität kein dauerhaft überaktives Gehirn bedeutet, sondern ein besonders responsives Nervensystem: Es reagiert stärker auf einströmende Reize, nicht aber aus sich heraus.

Reizabschirmung und Entspannungsübungen sind essenziell für Hochsensible

Hochsensibilität ist keine Schwäche, sondern birgt eine andere Form der Reizwahrnehmung und -integration. Bewusst geplante Erholung, Zeiten der Reizabschirmung (z. B. Stille, geschlossene Augen, Natur), eine reizarme Umgebungsgestaltung sowie Entspannungsübungen, die die langsameren Alpha- und Theta-Wellen stärken, sind essenziell, um das Nervensystem auszugleichen. Gleichzeitig zeigt die erhöhte Gamma-Aktivität, dass Hochsensible oft eine ausgeprägte Fähigkeit zur komplexen Integration, Kreativität und Empathie mitbringen, zumindest wenn sie ausreichend Pausen und Schutzräume haben, um nicht in chronische Übererregung zu geraten.

Bereits wenige Minuten mit geschlossenen Augen in einer stillen Umgebung können helfen, das Nervensystem zu beruhigen und damit Erschöpfung langfristig zu reduzieren. Regelmäßige Reizpausen, zum Beispiel durch kurze Spaziergänge in der Natur, stille Mittagspausen ohne Bildschirmzeit oder ruhige Routinen am Morgen und Abend, ermöglichen es dem Gehirn, in den Ruhezustand zurückzukehren. Auch bewusste Gestaltung der Wohn- und Arbeitsumgebung kann helfen: Matte Farben, weniger visuelle Reize, reduzierte Geräuschkulisse. Ebenso wichtig ist die Begrenzung digitaler und sozialer Überstimulation durch klare Offline-Zeiten, stumm geschaltete Benachrichtigungen oder das bewusste Meiden hektischer Orte. Ich selbst bin mittlerweile auch Fan von Schlafmasken geworden. Einfach tagsüber für ein paar Minuten aufsetzen und die völlige Dunkelheit genießen.

Hochsensible können sich gezielt erholen, wenn sie äußere Reize reduzieren und zwar schneller und effektiver, als man vielleicht vermuten würde.

Daher sind kurze Mikropausen mit geschlossenen Augen, stille Umgebungen oder Reizarmut besonders effiziente Erholungsstrategien für Hochsensible. Es braucht nicht viel Zeit, sondern vor allem Ruhe und Reizfreiheit, um das Gehirn zu entlasten. Auch andere Studien zeigen: Hochsensible Gehirne nutzen Ruhe aktiv, um Erlebtes zu verarbeiten. Eine tiefere Verarbeitung spricht nicht automatisch für eine stärkere Übererregung, zumindest wenn die hochsensible Person genug Ruhepausen zur Verfügung hat.

Hochsensible sind leistungsfähiger – unter den richtigen Umständen

In dem Sinne sind manche Empfehlungen unserer Leistungskultur für Hochsensible einfach komplett fehl am Platz. Kein „hustlen“ für Hochsensible, das funktioniert nicht, sondern führt schnurstracks in die Erschöpfung. Im Gegenzug dazu zeigte der Wirtschaftswissenschaftler Patrice Wyrsch in seinem Buch „Neurosensitivität“ (2020) auf, dass Hochsensible im Vergleich zu weniger Sensiblen im Durchschnitt bessere Arbeitsleistungen zeigen. Also gibt es noch nicht einmal einen Grund, sich so sehr zu quälen. Stattdessen vertrauen und sich, wo irgend möglich, dem eigenen Rhythmus hingeben.

Die EEG-Daten machen deutlich: Hochsensibilität ist kein „Defizit“, sondern eine Form der intensiven Verarbeitung – mit einem Nervensystem, das feine Signale schneller und tiefer aufnimmt. Wer versteht, wie sein Gehirn arbeitet, kann sich gezielt schützen, fördern und in einem gesunden Gleichgewicht halten. Hochsensible Menschen haben das Potenzial, besonders tief zu fühlen, zu denken und zu verbinden – wenn sie lernen, ihre Reizoffenheit nicht als Schwäche zu sehen, sondern als Fähigkeit, die eine passende Umgebung braucht, um zur Stärke zu werden.

Meinersen-Schmidt, N., Walter, N., Kulla, P., Loew, T., Hinterberger, T., & Kruse, J. (2023). Neurophysiological signatures of sensory-processing sensitivity. Frontiers in Neuroscience, 17, 1200962. https://doi.org/10.3389/fnins.2023.1200962

Wyrsch, Patrice (2020): Neurosensitivität.