1. Hochsensibilität ist keine Krankheit: Bei der Hochsensibilität handelt es sich nicht um eine pathologische Störung, sondern um eine normale Ausprägung der Persönlichkeit, die möglicherweise sogar evolutionäre Vorteile für die Gesamtbevölkerung mit sich bringt (Aron, 2014). Hochsensibilität ist eine natürliche Variation davon, wie Menschen ihre Umwelt erleben und verarbeiten. Hochsensibilität lässt sich außerdem nicht mit Persönlichkeitsstörungen gleichsetzen.
2. Hochsensibilität ist eine Modediagnose: Es könnte sein, dass Hochsensibilität in unserer schnelllebigen Zeit mehr in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt, um ein neues Phänomen handelt es sich dabei aber nicht. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich der Naturforscher und Philosoph Carl von Reichenbach mit dem sensitiven Menschen und seinem Verhalten zum Ode (zur Lebenskraft) (Reichardt, 2015). Doch auch im Altertum diskutierten die Gelehrten über die Sensibilitätsunterschiede der Menschen, woraus später die Temperamentenlehre hervorging (Küster et al., 2021).
3. Alle Hochsensiblen sind schüchtern: Hochsensible bringen eine Tendenz zur Introversion mit, allerdings gibt es auch extravertierte und ambivertierte Hochsensible (Aron, 2014). Allerdings bedeutet eine Introversion auch nicht, dass eine Person schüchtern ist. Introversion bedeutet lediglich, dass eine Person Energie aus dem Alleinsein zieht, eher ruhig und gedanklich nach innen gerichtet ist. Schüchternheit hingegen ist von Hemmungen im Sozialkontakt und sozialer Unsicherheit geprägt, die bis hin zu sozialen Ängsten gehen kann. Natürlich können Hochsensible auch schüchtern sein, die Zurückhaltung kann jedoch auch einfach mit der Introversion zu tun haben und laut Aron (2014) dem typisch zurückhaltenden Verhalten, was viele hochsensible Menschen zeigen („pause to check“).
4. Hochsensible Menschen sind Mimosen: Hochsensibilität kann nicht mit Überempfindlichkeit gleichgesetzt werden. Zwar neigen Hochsensible zu einer stärkeren und tieferen Verarbeitung von Sinnesreizen und Emotionen, die dazu führen kann, dass sie schneller als nicht hochsensible Menschen überreizt sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Hochsensible generell Probleme mit der Stressverarbeitung haben oder emotional vulnerabel sind. Hochsensibilität kann nicht mit Neurotizismus gleichgesetzt werden (Aron, 2014).
5. Hochsensibilität ist ein Nachteil für die Betroffenen: Medienberichte stellen Hochsensibilität mitunter als eine Last dar, welche die Betroffenen in erster Linie einschränkt. Wie positiv die eigene Hochsensibilität genutzt werden kann, hängt davon ab, welche Strategien für den Umgang der eigenen Andersartigkeit vorhanden sind und wie sehr ein Mensch mit diesen Eigenschaften angenommen und gefördert wurde. Wichtig ist hierbei der Begriff der „Vantage Sensitivity“, der vom Entwicklungspsychologen Dr. Michael Pluess von der Queen Mary University of London geprägt wurde. Die Vantagesensitivität steht für die Reaktionsfähigkeit auf positive Umweltbedingungen und kann als andere Seite des Spektrums der vulnerabel Sensitiven gesehen werden, die sehr intensiv auf negative Umweltbedingungen reagieren (Anmerkung an dieser Stelle: Wie stark wir auf negative Umweltbedingungen reagieren, hängt auch von unserem Stresslevel ab. Akuter oder chronischer Stress, z. B. aufgrund von aktuellen Krisen oder traumatischen Lebenserfahrungen sowie extremen Persönlichkeitsstilen können unsere Wahrnehmung von negativen Reizen erheblich verstärken).
Der Wirtschaftswissenschaftler Patrice Wyrsch erforscht Hochsensibilität ebenso aus einer ressourcenorientierten Sicht und stellte in dem Zuge fest, dass vantagesensitive Menschen im Vergleich zu nichtsensitiven Menschen die mit Abstand Performance im Arbeitskontext erbrachten und sich außerdem am stärksten prosozial verhielten (Wyrsch, 2020).
Damit stellt sich also nicht die Frage, ob die Hochsensibilität an sich ein Problem ist, sondern in erster Linie, wie Hochsensible ihr Potenzial nutzen können.