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Auch Hochbegabte müssen erst lernen, wie man einen Berg erklimmt

Wie kann es eigentlich sein, dass Hochbegabte oftmals keine Höchstleistungen in der Schule, im Studium oder am Arbeitsplatz vollbringen, wenn sie doch ein so enormes intellektuelles Potenzial mitbringen? Langandauernde Unterforderung kann zu Underachievement führen.

Bei einer Hochbegabung sprechen wir erst einmal über ein Potenzial, das ein Mensch mitbringt. Dieses Potenzial ist nach der Definition der US-amerikanischen Psychologin und Intelligenzforscherin Linda Gottfredsen eine „sehr allgemeine geistige Kapazität, die – unter anderem – die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zur Problemlösung, zum abstrakten Denken, zum Verständnis komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung umfasst“ (Reichardt, 2018, S. 30).

Dieses Potenzial ist natürlich nicht so ohne weiteres von außen sichtbar. Es muss in Leistung übersetzt werden, um von anderen Menschen erkannt zu werden (auch IQ-Tests sind letztendlich Leistungstests).

Um ein Potenzial in Leistung umzusetzen, braucht es wiederum die richtigen Bedingungen, denn zur Leistungserbringung zählt sehr viel mehr, als das reine Potenzial. Und hier bewegen wir uns schon auf der Ebene der Emotionen: So intelligent wir auch sein mögen, wir sind keine Roboter die man mit einer Aufgabe betreuen kann, die dann ohne Umschweife ausgeführt wird. Wir sind Menschen. Ob nun Kind oder Erwachsener, wir alle benötigen die Fähigkeiten zur emotionalen Selbstregulation. Optimalerweise werden diese in der Schule erlernt. Es gibt jedoch zahlreiche Gründe und Faktoren, warum dies nicht so gut klappen kann. Heute widmen wir uns dem Faktor Unterforderung, der Hochbegabte daran hindern kann, zu erlernen, ihr Potenzial wirklich zu nutzen.

Unterforderung, das Lernen lernen und unsere emotionale Landschaft

Wenn Menschen zu mir ins Mentoring kommen, höre ich immer wieder diesen einen Satz: „Ich habe das Lernen nicht gelernt“. Allgemein nutzen wir diesen Satz häufig, um das Phänomen und die Auswirkungen von Underachievement zu beschreiben. Doch ganz korrekt ist er nicht: Die Betroffenen können meistens ganz wunderbar lernen, wenn sie sich in ihrem eigenen Interessengebiet bewegen. Sofern sie eine intrinsische Motivation verspüren, Neugierde erleben und etwas Neues erfahren können. Sind sie in diesem Bereich unterwegs, fliegt ihnen die Konzentration nur so zu, sie müssen sich nicht anstrengen und erfahren eine große Freude bei der Arbeit. Das ist wunderbar!
Doch schnell zeigen sich die Grenzen dieser Herangehensweise: Nämlich dann, wenn es etwas schwieriger wird, wenn Hürden überwunden werden müssen, dann versagen ihre Fähigkeiten, weil sie sich nicht willentlich motivieren können. Ihre Motivation ist abhängig von äußeren Umständen, sie ist passiv und kann nicht aktiv von ihnen selbst erzeugt werden.

Wenn Hochbegabte nicht gelernt haben, mit Herausforderungen umzugehen

In unserer Schulzeit erleben wir optimalerweise, dass wir immer wieder neuen Herausforderungen ausgesetzt werden, an denen wir wachsen können. Wir bekommen eine neue Aufgabe, die uns fordert, vielleicht auch für einen kurzen Moment überfordert. Du kannst es dir vorstellen wie einen hohen Berg, den du erklimmen möchtest. Wenn du unten stehst, erscheint dir der Weg nahezu unüberwindbar, du siehst das Ende nicht, du weißt nicht, was auf dich zukommt. Am Fuß des Berges wartet ein sanfter Aufstieg auf dich, alles um dich herum ist grün, du streifst durch Wiesen und Wälder. Deine Muskulatur ist noch nicht an die Steigung gewöhnt, doch mit der Zeit baut sie sich von selbst auf. Das schaffst du auch alleine. Doch irgendwann ist ein Plateau erreicht, die Luft wird dünner, der Pfad immer schmaler. Bleibst du nicht völlig konzentriert, drohst du zu fallen. Du brauchst Werkzeug, um dich abzusichern, vielleicht auch etwas Hilfe von einem erfahrenen Bergsteiger, der dir zeigt, welcher Weg der beste ist und wie du ihn bewältigen kannst.

Je öfter du versuchst so einen Berg zu erklimmen, desto weiter schaffst du es. Desto müheloser wird es für dich, weil sich dein Körper an die sportliche Herausforderung gewöhnt hat. Du wirst immer erfahrener darin, welche Tricks und Kniffe du anwenden kannst, um deinem Ziel ein Stück näher zu kommen. Und wenn du einen Berg geschafft hast, dann geht es mit Begeisterung an den nächst größeren.

Doch was ist, wenn du in der Schule nie gelernt hast, so einen großen Berg zu erklimmen, sondern gemeinsam mit deiner Klasse immer nur kleine Hügel herauf und herunter gelaufen bist? Mit Hügeln kommst du dann irgendwann wunderbar zurecht, du fängst an, dich zu langweilen und sehnst dich nach der Weitsicht, die dir die Berggipfel versprechen.

Flow-Zustand nach Csíkszentmihály
Die gestellten Anforderungen müssen zu unseren Fähigkeiten passen, um einen Flow-Zustand erleben zu können. Liegen die Anforderungen im Verhältnis zu den Fähigkeiten zu hoch, fühlen wir uns überfordert und zeigen Stresssymptome. Andersherum können die Anforderungen aber auch zu niedrig sein. Kurzzeitig langweilen wir uns, langfristig können sich aber auch hier ernsthafte Stresssymptome zeigen. Abbildung angelehnt an Csíkszentmihály (2014, S. 107).

Unterforderung ist auf Dauer schmerzhaft: Wenn man unter seinen Möglichkeiten bleibt

Meine Erfahrung aus der Beratung ist, dass die Menschen ihr Potenzial spüren, auch wenn sie es von außen (z. B. in Form eines IQ-Tests) noch nicht bestätigt bekommen haben. Da ist dieses vage Gefühl, dass das noch nicht alles war. Eine Sehnsucht nach etwas Größerem und gleichzeitig ein Gefühl der Sinnlosigkeit, eine schmerzhafte Langeweile und Eintönigkeit, weil das Leben nicht genug Potenzial für Wachstum liefert – immer den selben Ausblick, mit Hügeln kennen wir uns ja aus. Doch jetzt einfach so einen Berg besteigen, das geht auch nicht. Denn das Bergsteigen muss erst erlernt werden.

Unterforderung im Schulkontext

Die meisten Kinder, auch die hochbegabten, freuen sich erst einmal auf die Schule. Sie vertrauen darauf, dass dort ihre Neugierde befriedigt wird und sie viel Neues lernen. Doch mit der Zeit stellen insbesondere die sehr klugen Köpfe fest, dass sie statt auf einer Entdeckungsreise durch das Wissen unserer Zeit in einem Umfeld gefangen sind, in dem sie ständig bereits gelerntes wiederkauen (üben) müssen, obwohl sie es längst verstanden haben. Das ist frustrierend. Die einst so positive Erwartungshaltung wird gedämpft, eine Frustration stellt sich ein. Kurzfristig ist es für Kinder auch sehr wichtig, ein wenig Frustration zu erleben, um zu lernen, damit umzugehen. Bei hochbegabten Kindern ist es jedoch oftmals zu viel. Die eigentlich so positive Erwartungshaltung, die Motivation, wird immer wieder enttäuscht, sodass diese mit der Zeit verebbt. Denn wenn die Aufgabe zu einfach ist, bleibt der Belohnungseffekt aus. Sie sind den Hügel ja schon so oft hochgelaufen, es ist langweilig geworden. Sie möchten gerne einen kleinen Berg besteigen, doch wird ihnen das nicht angeboten.

Keine Belohnung – keine Anstrengung, ohne dabei auszubluten. So einfach ist das. Das ist keine bewusste Entscheidung, so funktionieren wir eben. Die Kinder können nichts dafür, dass sie nicht gemäß ihrer Fähigkeiten gefördert werden.

Wenn man sich trotzdem anstrengt...

…passiert vor allem eines: Wir verlieren sehr viel Energie. Wer sich auf etwas konzentrieren möchte, das ihn kein Stück packt, muss sich willentlich und mit Anstrengung konzentrieren. Das verursacht Stress im Organismus, den wir nicht ewig kompensieren können. Mal einige Tage Langeweile sind kein Problem, ist es aber ein Dauerzustand, so tragen wir die gesundheitlichen und emotionalen Konsequenzen daraus.

Auswirkungen der Unterforderung bis hin zum Underachievement
Die Auswirkungen langanhaltender Unterforderung dürfen nicht unterschätzt werden. Nicht nur, dass dringend benötigte lernbezogene Fähigkeiten nicht gelernt werden können, wird der Betroffene in eine Abwärtsspirale geführt. In diesem Prozess werden die bereits vorhandenen Fähigkeiten und die Lernfreude erheblich beeinträchtigt. In Anlehnung an Lehwald (2017, S. 72).

Folgen dauerhafter Unterforderung

  • Wir kommen nicht aus dem Quark, wenn wir eine Aufgabe angehen, müssen uns regelrecht dazu zwingen, was uns Energie kostet und zum Aufschieben einlädt.
  • Wir möchten eigentlich nicht tun, was wir tun sollen/wollen/müssen. Dadurch können wir uns nicht in die Aufgabe versenken, in den „Flow“ gehen. Wir spüren eine innere Leere, die wir unbedingt füllen wollen – durch andere, spannendere Tätigkeiten.
  • Wir lernen nicht, unseren Stress zu regulieren, wenn wir Herausforderungen gegenüberstehen – weil wir damit keine Erfahrung haben. Wenn wir also für unser kognitives Leistungspotenzial angemessene Anforderungen vorfinden, sind wir erst einmal total überfordert.
  • Wir lernen nicht, dass wir selbstwirksam sind und Handlungsspielraum haben. Wir erlernen nicht, wie wir an schwierige Herausforderungen herangehen können, was wir überhaupt tun müssen, damit diese zum Erfolg werden. Damit haben wir Schwierigkeiten mit der Kausalattribuierung (hierzu findest du mehr in meinem Blogartikel zum Thema Glück, Pech und Zufall – oder doch die eigenen Fähigkeiten?). Anstatt Erfolge auf unsere Fähigkeiten und unsere Anstrengung zurückzuführen, denken wir, wir hätten schlicht Glück gehabt.
  • Unser Selbstwert leidet, wir fangen an, uns als Versager zu fühlen. Insbesondere dann, wenn wir um unser eigentlich so hohes kognitives Potenzial wissen – oder es unbewusst spüren.
  • Leidet erstmal der Selbstwert, versuchen wir natürlich Situationen aus dem Weg zu gehen, die uns dahingehend verletzen. Es treten lernbezogene Ängste und Vermeidungsverhalten auf, wir versuchen Misserfolgen (die zwangsläufig mit großen Herausforderungen daherkommen) aus dem Weg zu gehen. Folge: Wir bleiben deutlich unter unseren Möglichkeiten!
  • Durch den Stress leiden Psyche und Körper. Depressionen, Ängste, sozialer Rückzug und psychosomatische Beschwerden bis hin zu Burnout/Boreout können die Folge sein.

Lösungsmöglichkeiten, um endlich richtig gefordert zu werden

Die Lösung des Problems richtet sich danach, welche Folgeerscheinungen bereits aufgetreten sind. Wird die Unterforderung früh entdeckt, so können schulische Maßnahmen wie Enrichment, Akzeleration und angepasste Lehrstrategien bereits ausreichen. Ist aber erst einmal der Weg ins Underachievement geebnet, benötigt es oftmals professionelle Unterstützung.

Wichtig dabei ist ein absolut feinfühliges Vorgehen, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Durch die langanhaltende Unterforderung und den möglichen Eintritt und das Underachievement sind emotionale Wunden entstanden, die erst einmal versorgt werden müssen. Wir können nicht tatkräftig eine neue Herausforderung angehen und einen Berg erklimmen, wenn gerade unser Bein schmerzt und blutet. Logisch, oder?

 

Günstige vs. ungünstige Lehrstrategien bei hochbegabten Schüler/innen. In Anlehnung an Lehwald. G. (2017, S. 73). Motivation trifft Begabung. Hogrefe
Günstige vs. ungünstige Lehrstrategien bei hochbegabten Schüler/innen. In Anlehnung an Lehwald (2017, S. 73).

Wir müssen lernen, dass das Herangehen und die Bewältigung von großen Herausforderungen mit Freude verbunden ist und wir den (inneren) Kritiker getrost Zuhause lassen können. Dafür ist es wichtig, sich von der Erwartungshaltung zu befreien, dass wir nur aufgrund unserer Intelligenz alles direkt können müssten und jedes Versagen ein Beweis dafür ist, dass wir doch nicht so smart sind, wie wir dachten. Das ist in etwa so, als würdest du von dir erwarten, dass du die schwierigsten Pässe beim Bergsteigen auf Anhieb und ohne das nötige Rüstzeug bewältigen kannst, nur weil du einen athletischen Körperbau hast. Du bist/ dein Kind ist mit einem enormen Potenzial gesegnet, doch das Leben hat dir noch nicht die passenden Bedingungen geliefert, um zu lernen, es auch wirklich zu nutzen.

Alle diese Fähigkeiten zur Selbststeuerung und damit zur Leistungserbringung können nachgelernt werden. Dieses Lernen ist mit Freude verbunden, deine Wünsche, Bedürfnisse und Ziele stehen dabei im Vordergrund. Damit du die Berge erklimmen kannst, die dir den schönsten Ausblick versprechen 😊.  Ich helfe dir gerne dabei. Schau dir hierfür gerne mein Angebot für die Potenzialanalyse an.

Alles Liebe

Lisa

Literaturverzeichnis