Die existenzielle Depression ist eine einzigartige Facette der Depression, die besonders hochbegabte Menschen betrifft. Laut Webb (2015) stehen hochbegabte Personen aufgrund ihrer Tiefgründigkeit und Andersartigkeit vor besonderen Herausforderungen, insbesondere wenn ihre Umgebung nicht unterstützend ist und ihre besonderen Eigenarten und Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden.
Obwohl Hochbegabte im Allgemeinen nicht anfälliger für Depressionen sind als andere, spielt die existenzielle Depression eine Sonderrolle, die oft unabhängig von äußeren Einflüssen ist, jedoch unter bestimmten Umständen begünstigt wird.
Was ist eine existenzielle Depression?
Die existenzielle Depression ist eine Form der Depression, die sich auf Fragen und Themen konzentriert, die mit der Existenz, dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität verbunden sind. Der Begabungsforscher James T. Webb (2015) beschreibt sie als eine Depression, die auf der Fähigkeit beruht, Dinge zu reflektieren und sich vorzustellen, wie sie idealerweise sein sollten, während gleichzeitig das Bewusstsein vorhanden ist, dass man mit diesen Gedanken und Reflektionen größtenteils allein ist. Im Gegensatz zu anderen Formen der Depression, die oft mit konkreten Auslösern oder psychologischen Ursachen in Verbindung gebracht werden können, bezieht sich die existenzielle Depression auf ein tieferes existenzielles Unbehagen und eine emotionale Belastung, die aus dem Gefühl resultieren kann, dass das Leben sinnlos oder leer erscheint.
Menschen, die an einer existenziellen Depression leiden, können intensive und quälende Gedanken über die Bedeutung ihres Lebens, ihre Existenz in der Welt und das Konzept der Sterblichkeit haben. Sie können sich von einem Gefühl der Leere, Sinnlosigkeit oder existenziellen Einsamkeit überwältigt fühlen, selbst wenn äußere Umstände stabil oder zufriedenstellend sind.
Die existenzielle Depression kann mit einem tieferen Bedürfnis nach Sinn und Zweck im Leben einhergehen, das schwer zu erfüllen ist. Sie kann auch mit Fragen der Identität, des Wertes und der Bedeutung des eigenen Daseins verbunden sein. Menschen, die unter existenzieller Depression leiden, können sich oft isoliert und unverstanden fühlen, da sie das Gefühl haben, dass ihre inneren Kämpfe und Fragen von anderen nicht verstanden oder anerkannt werden.
Die Verbindung von Hochbegabung und existenzieller Depression
Die existenzielle Depression steht in direktem Zusammenhang mit den Merkmalen der Hochbegabung, einschließlich des verstärkten Nachdenkens über existenzielle Fragen und einem ausgeprägten Verständnis für Probleme aus einer übergeordneten Perspektive. Dies umfasst:
- Intensive Reflexion über den Sinn des Lebens
Hochbegabte Personen neigen dazu, tiefe und komplexe Gedanken über den Sinn des Lebens anzustellen. Sie könnten sich ständig fragen, welchen Zweck ihr Dasein hat und welche Rolle sie in der Welt spielen. - Gefühl der Einsamkeit und Andersartigkeit
Hochbegabte Menschen könnten sich aufgrund ihrer intensiven Gedanken und ihres tiefen Verständnisses für die Welt von anderen isoliert fühlen. Das Gefühl, von Gleichaltrigen oder sogar von Erwachsenen nicht verstanden zu werden, kann zu einem starken Gefühl der Einsamkeit führen. - Idealistische Vorstellungen und Frustrationen
Hochbegabte Personen könnten idealistische Vorstellungen darüber haben, wie die Welt sein sollte, und sich frustriert fühlen, wenn die Realität nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmt. Dieser Konflikt zwischen ihren idealistischen Visionen und der Realität kann zu einer tiefen Enttäuschung und Frustration führen. - Übermäßige Selbstreflexion und Selbstkritik
Hochbegabte Menschen haben oft eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion. Sie könnten sich ständig selbst analysieren und kritisch hinterfragen, was zu einem negativen Selbstbild und einem Gefühl der Unzulänglichkeit führen kann. - Fehlen von Gleichgesinnten
Hochbegabte Personen könnten Schwierigkeiten haben, Gleichgesinnte zu finden, mit denen sie sich auf intellektueller und emotionaler Ebene verbinden können. Das Fehlen von unterstützenden sozialen Netzwerken kann das Gefühl der Isolation und Einsamkeit verstärken. Bei einer Höchstbegabung kann sich diese Isolation sogar noch weiter verschärfen.
Existenzielle Depression und hochbegabte Kinder
Besonders bei hochbegabten Kindern spielt die Thematik der asynchronen Entwicklung eine entscheidende Rolle. Schon in jungen Jahren können diese Kinder tiefgründige Fragen stellen und ihr eigenes Denken reflektieren (Metakognition), während ihnen möglicherweise die emotionalen Erfahrungen fehlen, um diese Gedanken angemessen zu verarbeiten.
Während ein hochbegabtes fünfjähriges Kind durchaus in der Lage sein kann, das Konzept vom Tod zu begreifen, fehlen ihm jedoch passende Ansätze, die daraus entstehenden emotionalen Folgen zu integrieren. Insbesondere dann, wenn sich Personen im Umfeld der hochbegabten Person nicht so tiefgründig und gehaltvoll mit dieser Thematik befassen, kann es sein, dass das Kind mit seiner emotionalen Antwort darauf alleine und damit überfordert bleibt.
Die Bedeutung, die dem Tod zugeschrieben wird, und die Art und Weise, wie er emotional bewertet wird, variieren stark von Kultur zu Kultur. In einigen Kulturen wird der Tod als natürlicher Bestandteil des Lebenszyklus betrachtet, während er in anderen Kulturen mit tiefen Emotionen wie Trauer, Angst oder sogar Feierlichkeit verbunden ist.
In westlichen Kulturen wie in den meisten Teilen Europas und Nordamerikas wird der Tod oft mit Trauer und Verlust assoziiert. Menschen betrachten den Tod als eine endgültige Trennung von geliebten Menschen, was zu tiefer Trauer und Schmerz führt. Beerdigungsrituale sind oft von einer Atmosphäre der Trauer geprägt, und es ist üblich, dass Familienangehörige und Freunde zusammenkommen, um ihre Trauer zu teilen und sich gegenseitig Trost zu spenden.
Im Gegensatz dazu betrachten einige indigene Kulturen den Tod als einen natürlichen Übergang oder als Teil eines größeren kosmischen Zyklus. In vielen indigenen Gemeinschaften, wie beispielsweise bei den Navajo in Nordamerika oder den Aborigines in Australien, wird der Tod als eine Rückkehr in die spirituelle Welt betrachtet, wo die Verstorbenen weiterleben und mit ihren Vorfahren verbunden sind. Beerdigungsrituale können mit Feierlichkeiten und Zeremonien verbunden sein, die das Leben des Verstorbenen ehren und seine spirituelle Reise unterstützen.
Ich erlebe regelmäßig, dass hochbegabte Kinder in der westlichen Kultur eine große Angst rund um das Thema Tod entwickeln. Unsere kulturelle Vorstellung ist für besonders tiefgründige Kinder eine große Herausforderung. Dank ihrer großen intellektuellen Fähigkeiten sind sie allerdings schon um jungen Alter in der Lage zu begreifen, dass es sich bei der kulturellen Vorstellung lediglich um Konzepte handelt, um Vorstellungen, wie es sein könnte, die von unserer Geschichte geprägt sind, aber nicht zwangsläufig der Realität entsprechen müssen.
Es kann sehr hilfreich sein, das Kind über die unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen zum Thema Tod aufzuklären und mit ihm gemeinsam in neue Wissensgebiete, z. B. Erfahrungsberichte von Nahtoderfahrenen, zu erkunden, um auch den spirituellen Bedürfnissen des Kindes Rechnung zu tragen.
Ein weiteres schönes Beispiel für die existenzielle Depression bei einem offenbar hochbegabten Kind findest du in diesem kurzen Video (in englischer Sprache): *Klick*
Einsamkeit als Begleiter von vielen Hochbegabten
Alle Menschen haben das Bedürfnis nach Verbundenheit, so auch hochbegabte. Die Einsamkeit hochbegabter Menschen wird oft durch ihr tiefgehendes Verständnis der Welt und ihrer idealistischen Gedanken verstärkt. Das Gefühl, von anderen nicht verstanden zu werden, kann zu einer inneren Isolation führen, in der hochbegabte Personen sich allein mit ihren Gedanken und Sorgen fühlen.
Die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu treffen und sich auszutauschen, kann jedoch eine immense Erleichterung bieten und dazu beitragen, das Gefühl der Einsamkeit zu mildern. Zu diesem Zweck administriere ich eine Facebook-Gruppe für hochsensible und hochbegabte Erwachsene. Schau gerne vorbei und tausche dich mit anderen sensiblen und klugen Köpfen aus.
Anders als vorübergehende Phasen ist die existenzielle Depression eine tiefgreifende Erfahrung, die verarbeitet und kanalisiert werden muss. Bei einer existenziellen Depression ist laut Webb das Suizidrisiko besonders hoch, wenn sie von den signifikanten Personen in ihrem Leben abgelehnt werden und niemanden haben, mit dem sie ihre tiefgehenden Sorgen teilen können.
Darum ist eine passende Begleitung so enorm wichtig. In diesem Zuge können dann die Herausforderungen der existenziellen Depression zu einer verstärkten Persönlichkeitsentwicklung führen und in wahrer Lebenszufriedenheit münden.
Hilfe finden bei existenzieller Depression
Für Betroffene einer existenziellen Depression ist es unumgänglich, dass es jemanden gibt, der 1. ihre Gefühle versteht und 2. die Ideale teilt (Webb, 2015). Ich erhalte regelmäßig die Rückmeldung, dass es Betroffenen schwer fällt, eine passende Psychotherapeutin oder eine Psychotherapeuten zu finden, die oder der ähnliche Ideale und Lebenserfahrungen mitbringt und wo sie sich gut aufgehoben fühlen.
Bei behandlungsbedürftigen Depressionen möchte ich dazu ermuntern, die Mühen auf sich zu nehmen und weiter zu suchen. Nicht alle Psychotherapeuten kennen sich mit dem Thema Hochbegabung und den damit einhergehenden Besonderheiten aus.
In Absprache mit dem behandelnden Psychotherapeuten kann parallel zur Psychotherapie eine Beratung zu den Themen Hochsensibilität und Hochbegabung mit Schwerpunkt existenzieller Depression stattfinden. Gerne kläre ich auch umfassend über das Konzept der Overexcitabilities und die „Theory of Positive Disintegration“ von Kazimierz Dabrowski auf.
Eine Persönlichkeitsentwicklungstheorie, die das besondere Erleben von hochsensiblen und hochbegabten Menschen mit einbezieht. Dabrowski geht davon aus, dass Krisen auch eine Chance darstellen können, die mit den passenden Ressourcen in einem posttraumatischen Wachstum münden können. Auf der höchsten Stufe der Persönlichkeitsentwicklung führt dies schließlich zu einem Leben im inneren Frieden.
Literatur:
Dabrowski, Kazimierz (2015). Personality Shaping Through Positive Disintegration. Red Pill Press
Daniels, Susan; Piechowski, Michael M. (2008). Living with Intensity. Great Potential Press
Mendaglio, Sal (2008). Dabrowski’s Theory of Positive Disintegration. Great Potential Press.
Mönks, Franz-J., Rogalla, Marion (2010). Journal für Begabtenförderung. Sensitivität nach Dabrowski. 02/2010
Webb, James T (2020). Die Suche nach Sinn. Intelligenz im Spannungsfeld von Idealismus, Desillusionierung und Hoffnung. Hogrefe
Webb, James T. (2015). Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung. Hogrefe.
Webb, James T. (2012) Hochbegabte Kinder. Das Große Handbuch für Eltern. Hogrefe.
Weitere kostenlose Ressourcen für dich:
https://www.positivedisintegration.com/ (in englischer Sprache)