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Krise als Chance: Hochsensibilität und Hochbegabung als Entwicklungspotenzial. Die Theory of Positive Disintegration von Kazimierz Dabrowski.

Können Selbstzweifel, innere Unruhe, Ängste und Depressionen auch ein Entwicklungspotenzial bergen? Eine Frage, die besonders für hochsensible und hochbegabte Menschen von hoher Relevanz ist. In der heutigen schnelllebigen Welt, in der die Herausforderungen des täglichen Lebens oft mit einem Gefühl der Überforderung einhergehen, ist es entscheidend, einen tieferen Einblick in die menschliche Psyche und die Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung zu gewinnen.

Die “Theory of Positive Disintegration” wirft einen Blick auf die potenziell konstruktive Natur von inneren Konflikten und emotionalen Turbulenzen und bietet eine innovative Perspektive darauf, wie Selbstzweifel und Krisen als Katalysatoren für persönliches Wachstum dienen können.

Die Theory of Positive Disintegration (TPD) wurde vom polnischen Arzt, Psychiater, Psychologen und Philosophen Kazimierz Dabrowski entwickelt und 1964 veröffentlicht. Seine Arbeit wurde stark von den sozialen und politischen Umständen seiner Zeit beeinflusst, insbesondere von den Auswirkungen der beiden Weltkriege und den Entwicklungen in der Psychologie und Philosophie.

Dabrowski war unzufrieden mit den traditionellen psychologischen Theorien seiner Zeit, die seiner Meinung nach die Vielschichtigkeit und Dynamik der menschlichen Persönlichkeit nicht angemessen erklären konnten. Er strebte nach einem umfassenderen Modell, das die positiven Aspekte von inneren Konflikten und Krisen berücksichtigte und diese nicht einseitig als Störungen deklarierte.

Zentral für Dabrowskis Theorie sind die fünf Stufen der Persönlichkeitsentwicklung, die eine Reise zur Selbstintegration und individuellen Autonomie darstellen.

Während die TPD allgemein nicht besonders bekannt ist, findet sie in der Hochbegabtenförderung besondere Beachtung. Denn um die besonders weit entwickelten Stufen der Persönlichkeitsentwicklung zu erklimmen, benötigt es eine besondere biologische Voraussetzung, die Dabrowski „Overexcitabilities“ nannte. Hierzu habe ich bereits einen kurzen Blogartikel verfasst *Klick*Nicht umsonst erklärte der Begabungsforscher  Prof.Franz Josef Mönks (2010, S. 6): ..Dabrowskis Lehre, von der manche sagen, sie sei die wichtigste und gründlichste im Hinblick auf hochbegabte Menschen.”

Individualität vs. Persönlichkeit

Wir alle sind durch zahlreiche Faktoren in unserem Leben geprägt worden. Dabei spielen sowohl unsere genetische Ausstattung als auch unsere Umweltfaktoren eine tragende Rolle. Wir definieren unsere Persönlichkeit danach, wie wir und andere sie im Kontext unserer Umwelt erfahren. Wir verinnerlichen, was uns über uns gesagt wird und erleben unsere Persönlichkeit dahingehend, wie wir uns verhalten.

Doch schon hier machte Dabrowski einen wichtigen Unterschied: Dieses (teilweise unbewusst) angelernte Verhalten, Denken und Fühlen sah er nicht als Persönlichkeit. Schließlich ist damit nicht das ausgedrückt, was als Potenzial wirklich in einem Menschen schlummert. Vielmehr sah er darin eine Individualität, die sich zu einer Persönlichkeit entwickeln kann (aber nicht muss).

Für Dabrowski war Persönlichkeit kein statisches Konstrukt, sondern ein sich ständig entwickelndes System, das durch individuelle Erfahrungen, Konflikte und die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens geformt wird. Die positive Disintegration ist der Prozess, durch den eine Person ihre bestehenden Persönlichkeitsstrukturen in Frage stellt, konfliktreiche Erfahrungen durchlebt und eine höhere Ebene der Selbstwahrnehmung und moralischen Sensibilität erreicht.

Positive Disintegration = Positiver Zerfall

Der Name der TPD ist natürlich nicht zufällig gewählt, sondern beinhaltet im Titel bereits wichtige Informationen über den Hergang der Persönlichkeitsentwicklung. Disintegration steht dabei für den Zerfall der Individualität, der durch innere Spannungen, Konflikte und Krisen vorangetrieben wird. Diese Konflikte können entstehen, wenn das Individuum zwischen niedrigeren, automatischen Impulsen und höheren, moralischen oder selbstreflexiven Tendenzen hin- und hergerissen ist.

Beispiel: Die deutsche Ärztin und Autorin Johanna Haarer formulierte Erziehungsratgeber, die eng mit der Nationalsozialistischen Ideologie im Einklang standen. Ihr erstes Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ wurde dabei (nach dem Untergang des Dritten Reichs um die NS-Terminologie bereinigt) noch Jahrzehnte später weiter aufgelegt und prägte damit das Bild der Erziehungslandschaft im deutschsprachigen Raum. Heute gelten die Erziehungsmethoden Haarers als überholt und schädlich, doch über eine lange Zeit hinweg waren ihre Ansichten in der breiten Masse bekannt und anerkannt. Diese beinhalteten eine extrem autoritäre Erziehungsmethode, die darauf abzielte, das das Kind blinden Gehorsam gegenüber den Eltern zeigt. Disziplin sollte dabei durch Bestrafung gelehrt werden, die emotionalen Bedürfnisse sollten dabei nicht beachtet werden (z. B. dient das Stillen ihrer Ansicht nach nur der Nahrungsaufnahme, beruhigt werden solle der Säugling damit nicht). Um eine ungesunde Abhängigkeit zu vermeiden, sollten Mutter und Kind früh getrennt werden. Das steht im Gegensatz zu den heutigen Forschungsergebnissen, die besagen, dass eine sichere Bindung von Mutter und Kind dem Kind die größte Autonomie gewähren. Siehe hier: Video über die Bindungstheorie nach Bowlby

Gehen wir davon aus, dass diese Art der Erziehung für eine gewisse Zeit der Standard für deutsche Eltern war. Die Eltern handelten nach bestem Wissen und Gewissen im Rahmen dessen, was ihnen als gut und richtig verkauft wurde.

Versetze dich in die Situation: Es ist 1942 und du bist frisch gebackenes Elternteil. Das pädagogische Wissen von heute steht dir noch nicht zur Verfügung. Deine Nachbarn, deine Geschwister und viele deiner Freunde erziehen ihre Kinder nach den Methoden von Johanna Haarer. Sie halten diesen Erziehungsstil für richtig. Kleine Babys werden alleine schreien gelassen, damit das Kind unabhängig wird und nicht zu viel Aufmerksamkeit erwartet. Was hättest du in dieser Situation gemacht? Als Leser/in meines Blogs bist du wahrscheinlich selbst sensibel und mitfühlend. Vielleicht hätte dich die Situation verunsichert, weil du instinktiv gespürt hättest, dass dein Kind dich braucht? Hättest du dann auf deine Wahrnehmungen vertraut?

Vielleicht bist du gut sozialisiert und hörst auf das, was andere sagen und machen. Tust du das völlig ohne Reflexion, dann bist du einwandfrei integriert auf Stufe 1. Du lebst ohne große innere Konflikte und hältst dich an die Moral, welche deine Kultur als richtig und wichtig betrachtet (zur genauen Erklärung der Stufen komme ich noch an späterer Stelle).

Hinterfragst du die Methoden allerdings, kommst du in einen inneren Konflikt, der möglicherweise von Selbstzweifeln geprägt ist: Du vertraust deiner Wahrnehmung vielleicht noch nicht vollständig, bist verwirrt davon, dass deine Schwester mit den Erziehungsmethoden Haarers überhaupt kein Problem zu haben scheint. Du fühlst dich „anders“ und leidest darunter. Dann befindest du dich wahrscheinlich auf Stufe 2 oder Stufe 3. Beides Stufen der Disintegration.

Du passt irgendwie nicht in die Gesellschaft. Du hinterfragst bestehende Überzeugungen, Wertvorstellungen und Verhaltensmuster. Dies kann zu einem Gefühl der Desorientierung und Unsicherheit führen, da du nicht mehr in der Lage bist, deine Persönlichkeit auf die gleiche Weise wie zuvor aufrechtzuerhalten.

An dieser Stelle sei erwähnt: Die TPD ist keine Stufenfolge, bei der ein Mensch von Stufe 1 nach 5 aufsteigt. Es kann auch sein, dass du niemals in dem Zustand der primären Integration auf Stufe 1 warst, sondern bereits dein Leben lang z. B. auf Stufe 2 in der Disintegration. An der Stelle darf es dann nicht verwundern, wenn dein Leben bis dato etwas anstrengend war.

Das „Positiv“ aus der Bezeichnung „Positive Disintegration“ kommt daher, dass eben jene Disintegration zu einer positiven Folge führen kann: Du entwickelst dich weiter. Dein moralisches Bewusstsein wird immer mehr von deinem eigenen Mitgefühl genährt. Nach und nach lernst du dir selbst zu vertrauen, aber auch deine eigenen Fallstricke und Überzeugungen kennen, die dich in die Irre führen können (um diese zu erkennen, habe ich übrigens ein tolles, wissenschaftlich fundiertes Tool parat: Die Potenzialanalyse).

Natürlich kann eine Disintegration auch negativ sein: Nämlich dann, wenn die Herausforderungen nicht bewältigt werden können und keine Integration auf höheren Stufen möglich ist.

Wir sind nicht nur auf einer Stufe

Dabrowski betont selbst, dass die Einteilung in die verschiedenen Stufen lediglich eine Denkhilfe darstellt. Es ist auch völlig normal, dass ein Mensch sich mit seiner Persönlichkeit auf mehreren Stufen gleichzeitig befindet, wobei aber meist eine Hauptstufe ausgemacht werden kann, die die Lebensrealität einer Person am stärksten bestimmt.

Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung

Das Entwicklungspotenzial ist die Fähigkeit einer Person, sich über ihre gegenwärtige Persönlichkeitsstruktur hinaus zu entwickeln. Dabrowski machte drei Haupteinflüsse aus, die bestimmen, wie wir unsere Persönlichkeit entwickeln können.

First Factor

Der erste Faktor betrifft die biologischen Aspekte, die Overexcitabilities (OE). Diese äußern sich in einer erhöhten Sensibilität gegenüber äußeren Reizen, Emotionen und moralischen Konflikten. Menschen mit diesen Sensitivitäten erleben oft eine innere Unruhe und eine intensive Reaktion auf die Ungerechtigkeiten und Herausforderungen in ihrer Umwelt. Für die Persönlichkeitsentwicklung sind dabei drei OEs besonders relevant:

  1.  Die emotionale OE, weil diese notwendig ist, um mittels des Mitgefühls überhaupt ein individuelles moralisches Bewusstsein zu erlangen (bei der emotionalen OE dürfte sich der ein oder andere an das Konzept der Hochsensibilität erinnert fühlen).
  2. Die intellektuelle OE, um die kognitiven Fähigkeiten zu haben, um die teils enormen Herausforderungen des persönlichen Wachstums überhaupt zu bewältigen. Übrigens: Die intellektuelle OE kann nicht zwangsläufig mit Hochbegabung gleichgesetzt werden. Nicht alle Hochbegabten sind auch intellektuell besonders sensitiv.

    Allerdings hat auch die moderne Forschung den Zusammenhang von Hochbegabung und intellektueller OE bestätigt: Hochbegabte sind besonders offen für neue Erfahrungen, besonders neugierig, besonders wissensdurstig (siehe hier: Die Persönlichkeitsmerkmale von Hochbegabten).

  3. Zuletzt die imaginative OE, um mit der Vorstellungskraft Bilder davon zu kreieren, wie es „sein könnte“. Eben dieser Punkt, dieses Wissen darüber „wie es sein könnte“, der Idealismus, führt zu den inneren Spannungen und ist die Ursache der existenziellen Depression bei Hochbegabung.

Second Factor

Der zweite Faktor bezieht sich auf die äußeren Einflüsse und Umweltbedingungen, denen eine Person ausgesetzt ist. Dazu gehören familiäre, soziale, kulturelle und bildungsbezogene Einflüsse, die die Persönlichkeitsentwicklung formen und prägen. Der zweite Faktor kann förderliche oder hemmende Umweltbedingungen umfassen, die das individuelle Wachstum und die Selbstverwirklichung entweder unterstützen oder behindern können. 

Positive Umwelteinflüsse können dazu beitragen, dass Personen ihre Potenziale entfalten und persönliche Ziele erreichen, während negative Umwelteinflüsse ihre Entwicklung beeinträchtigen können. Der zweite Faktor ist auf allen Stufen der Persönlichkeitsentwicklung relevant, besonders aber auf den ersten beiden, während er ab der dritten Stufe in seiner Bedeutsamkeit abnimmt. Dafür gewinnt hier der dritte Faktor an Wichtigkeit.

Third Factor

Der dritte Faktor wird in Dabrowskis Theorie einfach nur „Third Factor“ genannt, weil hier keine klare andere Bezeichnung möglich ist. “Der dritte Faktor ist die Dynamik bewusster Entscheidungen (Bewertungen), durch den man bestimmte Eigenschaften in sich selbst und in seiner Umgebung bejaht oder ablehnt“ (Dabrowski, 2015, S. 296, übersetzt von LMD).

Der dritte Faktor wird dann aktiv, wenn sich ein Individuum weniger nach der sozialen Umwelt richtet, sondern die Antworten, auch die moralische Bewertung einer Situation, in sich selbst sucht. Er ist ein Schlüsselelement im Prozess der persönlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung.

Es geht um die Fähigkeit, selbstbestimmt und autonom bewusste Entscheidungen zu treffen und Werturteile über sich selbst, die Umgebung und ihre Lebenserfahrungen zu fällen. Dies umfasst die Fähigkeit, positive Eigenschaften zu würdigen und zu fördern, während negative Aspekte abgelehnt oder überwunden werden. All dies erfordert eine kontinuierliche Reflexion und Selbstprüfung seitens des Individuums. Es bedeutet, sich bewusst mit den eigenen Gedanken, Gefühlen, Motivationen und Handlungen auseinanderzusetzen und sie kritisch zu bewerten, um ein tieferes Verständnis von sich selbst und seiner Umwelt zu entwickeln.

Deswegen sei an dieser Stelle gesagt: Selbstkritik ist absolut notwendig für die Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, braucht aber die richtigen Bedingungen, damit sie nicht außer Kontrolle gerät. Denn damit Selbstkritik nützlich ist, braucht sie den Zugang zu einem integrationsstarken Selbstsystem, dem Extensionsgedächtnis (siehe: PSI-Theorie mit der ich arbeite & Video hier und hier).

Durch den dritten Faktor entwickelt das Individuum moralische und ethische Prinzipien, die seine Handlungen und Entscheidungen leiten. Es ermöglicht die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gut und schlecht, und fördert ein verantwortungsbewusstes Verhalten gegenüber sich selbst und anderen. Lebt ein Mensch schließlich nach seinen inneren Werten, so stellt sich nach und nach ein immer stärkerer innerer Frieden ein.

Die Level der Persönlichkeitsentwicklung nach Dabrowski

Damit die Welt friedlich wird, müssen die Menschen friedlicher werden. Unter reifen Menschen wäre Krieg kein Problem – er wäre unmöglich. In ihrer Unreife wollen die Menschen gleichzeitig Frieden und die Dinge, die zu Krieg führen. Menschen können jedoch reifen, so wie Kinder erwachsen werden. Ja, unsere Institutionen und unsere Führer spiegeln unsere Unreife wider, aber wenn wir reifen, werden wir bessere Führer wählen und bessere Institutionen aufbauen. Es kommt immer wieder auf das zurück, was so viele von uns vermeiden möchten: daran zu arbeiten, uns selbst zu verbessern.“ Peace Pilgrim, 1994, S.104, übersetzt von LMD.

Stufenfolge der Theory of Positive Disintegration von Kazimierz dabrowski. Hochsensibilität und Hochbegabung als Entwicklungspotenzial.

Level 1: Primäre Integration – der Durchschnittsmensch

Auf der ersten Stufe erleben Individuen wenig innere Konflikte und Spannungen. Sie richten sich in erster Linie danach, was die Gesellschaft als gut und richtig betrachtet. Sie externalisieren ihr Moralbewusstsein, sie richten sich nach äußeren Einflüssen und gesellschaftlichen Normen. Es erfolgt vergleichsweise wenig Selbstreflexion. Die Menschen auf Stufe 1 handeln und denken weitgehend im Einklang mit den äußeren Normen und Erwartungen der Gesellschaft, ohne stark über persönliche Werte und Überzeugungen nachzudenken. Damit sehen sie auch wenig Grund zur Veränderung und Weiterentwicklung.

Da auf dieser Stufe wenig Raum für Selbstreflexion und persönliche Entwicklung besteht, ist das Potenzial für individuelles Wachstum und Selbstverwirklichung begrenzt. Individuen bleiben in einem Zustand relativer Stagnation und Anpassungsfähigkeit an äußere Einflüsse. Man ist geneigt aufgrund des mangels an inneren Konflikten einen inneren Frieden anzunehmen. Doch das wäre vermutlich nicht ganz korrekt. Während dieser frühen Stufe mag es oberflächlich nach Frieden aussehen, aber tatsächlich kann es ein Mangel an innerer Authentizität und Wachstum sein. Dennoch sprechen wir hier von einem Zustand der Integration, da das Individuum in die Gesellschaft integriert und angepasst ist.

Merkmale der Stufe 1

  • Übereinstimmung mit den Werten und Normen des sozialen Umfelds

  • Werte werden ohne vorherige kritische Überprüfung akzeptiert

  • Entscheidungen werden durch soziale Normen gerechtfertigt

  • eine Anpassung an “was ist”

  • der Einzelne verhält sich ethisch, sofern die Gesellschaft ethische Standards einhält

Die meisten Menschen in einer Gesellschaft befinden sich auf dieser Stufe.

Sonderfall: Psychopathie

Jemand, der nicht der Moral und den Regeln einer Gesellschaft folgt und sich dabei auch nicht kritisch hinterfragt, seinen eigenen Regeln folgt, diese aber moralisch nicht höher zu bewerten sind als die seiner Kultur, befindet sich nicht in der persönlichen Weiterentwicklung. Hierfür hat Dabrowski eine Unterstufe zu Stufe 1 eingerichtet: Die der Psychopathie.

Merkmale der Substufe Psychopathie

  • wenig Introspektion
  • wenig innere Konflikte – Konflikte sind äußerer Natur
  • Wohlergehen der anderen keine obere Priorität -> Möglichkeit des Ausnutzens anderer Menschen
  • Ziele ausgerichtet auf materielle Errungenschaften, Status, Erfolg und Macht
  • Wert einer Person wird an Erfolg und Geld gemessen
  • Beziehungen oft geprägt von Besitzgier

Dabrowski hat diese Stufe als Substufe unter Stufe 1 eingeführt. In manchen neueren Interpretationen der TPD befindet sich der Durchschnittsmensch auf Stufe 2, ich halte mich in diesem Artikel allerdings an die originale Herangehensweise von Dabrowski.

Wichtig: Die wenigsten Menschen auf Stufe 1 befinden sich in der Substufe “Psychopathie”. Die meisten Mensch auf Stufe 1 sind liebenswerte und freundliche Menschen, die sich einfach nur nicht so vertiefte Gedanken über den Sinn des Lebens und den Lauf der Zeit machen, wie Individuen höherer Entwicklungsstufen. 

Späte Stufe 1 - Übergang zur Stufe 2

Eine Person auf einer späten Stufe 1 nach Dabrowski könnte sich in einem Stadium befinden, in dem sie gerade erst beginnt, sich bewusst zu werden, dass es mehrere Ebenen der emotionalen und psychischen Entwicklung gibt. Auf dieser Stufe kann die Person erste Anzeichen von Unzufriedenheit mit ihrem gegenwärtigen Zustand oder ihrem Umfeld zeigen.

Charakteristisch für jemanden auf dieser Stufe ist ein Gefühl der Unruhe oder des Unbehagens, das durch einen Mangel an Sinn oder Erfüllung in ihrem Leben verursacht wird. Sie könnten eine latente Neugier und das Verlangen verspüren, nach Bedeutung und einem tieferen Verständnis für sich selbst und die Welt um sie herum zu suchen.

Eine Person auf dieser Stufe könnte sich fragen, ob es mehr im Leben gibt, als sie derzeit erlebt, und sie könnte beginnen, erste Schritte zu unternehmen, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Das könnte bedeuten, neue Interessen zu entwickeln, sich neuen Ideen oder Philosophien zuzuwenden oder sich einfach nur bewusster mit ihren eigenen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen.

Es ist wichtig anzumerken, dass Personen auf dieser Stufe möglicherweise noch nicht über die Klarheit oder das Verständnis verfügen, um ihre Unzufriedenheit oder ihre Suche nach Sinn vollständig zu artikulieren. Sie könnten sich stattdessen einfach von einem diffusen Gefühl der Unruhe oder des Unbehagens angetrieben fühlen, das sie dazu motiviert, nach Veränderungen zu suchen oder sich auf die Reise der persönlichen Entwicklung zu begeben.

In dieser Phase können sich erste Anzeichen von Wachstum und Entwicklung zeigen, während die Person beginnt, ihre eigenen Überzeugungen, Werte und Ziele zu erkunden und zu definieren. Sie steht möglicherweise am Anfang einer Reise der Selbsterkenntnis und des persönlichen Wachstums, die sie auf höhere Stufen der Persönlichkeitsentwicklung führen kann.

Stufe 2: Unilevel Disintegration

Auf Stufe 2 bricht die äußere Anpassung erstmals ein wenig auf. Das Individuum fängt an, die Wertvorstellungen der Gesellschaft zu hinterfragen und sich langsam von ihnen zu lösen. Sie erkennt zunehmend, dass ihre persönlichen Werte und Überzeugungen nicht mit den Normen der Gesellschaft übereinstimmen und beginnt sich selbst und ihre Motivationen zu hinterfragen.

Je weiter das Individuum auf Stufe 2 fortschreitet, umso aktiver hinterfragt sie sich selbst und sucht nach einem tieferen Sinn. Eine Fragestellung, die Menschen auf Stufe 2 antreibt, ist jene: „Wer bin ich eigentlich?“

Während die Konflikte auf Stufe 2 stark sind, fehlt es ihnen aber an Richtung. Das Individuum wird hin und her geworfen zwischen der gesellschaftlichen Norm mit dem Wunsch nach Anpassung und der inneren Unzufriedenheit. Innere Unruhe, Verwirrung, Spannungen, Orientierungslosigkeit, ein geringes Selbstwertgefühl, Ängste und Depressionen können die Folge sein.

Auf Stufe 2 wünscht sich das Individuum normal zu sein, von anderen akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Die innere Spannung und die gefühlte Isolation wird als sehr schmerzvoll erlebt.
Auf Stufe 2 wünscht sich das Individuum normal zu sein, von anderen akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Die innere Spannung und die gefühlte Isolation wird als sehr schmerzvoll erlebt.

Die Spannungen können derart stark sein, dass sich das Individuum in erster Linie eines wünscht: Es will „normal“ sein, d. h. sich auf Stufe 1 integrieren können. Bei manchen Individuen klappt das auch. Auch „normale“ Menschen werden durch Krisen auf Stufe 2 gehoben. Ist die Krise beendet, so integrieren sie sich wieder auf Stufe 1. Dabei werden die Probleme aber eher durch Zufall als durch einen systematischen Ansatz der persönlichen Entwicklung gelöst.

Für manche Menschen ist eine Integration auf Stufe 1 allerdings nicht möglich, insbesondere eben jenen mit dem hohen Entwicklungspotenzial dank der starken emotionalen, intellektuellen und imaginativen Overexcitabilities.

Stufe 2 ist dadurch geprägt, die Lösungen für die Herausforderungen außerhalb von sich selbst zu suchen, z. B. in externen Autoritäten (wie z. B. politischen Führern, besonders charismatischen Personen, die es „drauf haben“, Gurus und manchmal auch einfach Modeerscheinungen). Die Lösung kommt jedoch nur durch eine Hinwendung zu sich selbst. Die Person wird zurückgeworfen auf die eigenen Werte und das innere Wissen. Ein besonders spannender Prozess, der nicht einfach zu händeln ist. Denn nicht alles, was wir in uns spüren, ist unser inneres Wissen, unser Bauchgefühl. Aus eigener Erfahrung und meiner Erfahrung mit meinen Klienten weiß ich: Mitunter tarnen sich auch Ängste als Bauchgefühl.

Es braucht oftmals viel Wissen um die eigenen Prägungen, um zu unterscheiden: Wo handle ich gerade aufgrund meiner angelernten Individualität und wo handle ich gerade aus meinem freien Willen heraus? An erster Stelle steht nun, das Selbstgefühl zu stärken. Also sich selbst wieder zu spüren. Denn nur zu oft geht unser Selbstgespür aufgrund der Anpassung an die äußeren Bedingungen verloren. Ebenso entfernen wir uns nach Traumatisierungen immer weiter von uns selbst. Denn was viele Menschen nicht wissen: Unsere Gefühle drücken sich somatisch, das heißt im Körper aus. Emotionaler Schmerz ist Schmerz im Körper. 

Suchst du jemanden, der dir in deiner Situation Hilfestellung geben kann, so lasse dich nicht von zu viel Charisma beeindrucken. Suche dir einen Menschen, der dich dabei unterstützt, wieder zu dir selbst zu finden.

Merkmale einer Person auf Stufe 2

Die Person:

  • macht sich Sorgen, was andere über sie denken

  • vergleicht sich mit anderen

  • zweifelt an sich selbst

  • hat Angst, etwas falsch zu machen

  • fühlt sich fehlerhaft

  • tut das, was die Mehrheit tut

  • wünscht sich mehr Selbstakzeptanz

  • wünscht sich mehr Durchsetzungskraft

Selbstzweifel und Orientierungslosigkeit prägen die Situation einer Person auf Stufe 2. Sie fühlt sich im Gegensatz zu anderen minderwertig, ihr Selbstwertgefühl ist instabil.

Späte Stufe 2 - Übergang zu Stufe 3

Eine Person auf einer späten Stufe 2 in könnte sich in einem Übergangsstadium befinden, das sie näher an Stufe 3 heranführt. In dieser Phase hat die Person bereits einige grundlegende Konzepte der inneren Konflikte und der Unzufriedenheit mit den bestehenden sozialen Normen und Konventionen erfahren, die typisch für Stufe 2 sind.

Charakteristisch für jemanden auf einer späten Stufe 2 ist ein starkes Gefühl der Desintegration und der Unruhe. Die Person kann eine intensive innere Spannung zwischen dem Wunsch nach Konformität und dem Drang nach persönlicher Authentizität und Autonomie erleben. Sie hat möglicherweise begonnen, die Grenzen und Einschränkungen der gesellschaftlichen Erwartungen zu erkennen und zu hinterfragen.

Während dieser Übergangsphase kann die Person zunehmend den Wunsch verspüren, eine tiefere Bedeutung und Sinnhaftigkeit in ihrem Leben zu finden. Sie könnte anfangen, traditionelle Werte und Überzeugungen zu hinterfragen und nach alternativen Perspektiven zu suchen, die besser mit ihren eigenen inneren Überzeugungen und Idealen in Einklang stehen.

Eine Person auf einer späten Stufe 2 könnte anfangen, erste Schritte zu unternehmen, um ihre Unabhängigkeit von sozialen Normen zu stärken und ihre eigenen moralischen und ethischen Prinzipien zu entwickeln. Sie könnte beginnen, bewusster Entscheidungen zu treffen, die ihren eigenen Überzeugungen entsprechen, auch wenn dies bedeuten könnte, sich von der allgemeinen Meinung abzuheben oder Widerstand aus ihrem sozialen Umfeld zu erfahren.

Während dieser Übergangszeit kann die Person mit einem erhöhten Maß an inneren Konflikten und Unsicherheiten konfrontiert sein, während sie versucht, ihren eigenen Weg zu finden und ihre Identität zu festigen. Die Reise von einer späten Stufe 2 zur Stufe 3 ist oft von einem Prozess der Selbstreflexion, des Wachstums und der persönlichen Entwicklung geprägt, der es der Person ermöglicht, eine tiefere Ebene der Autonomie und Selbstverwirklichung zu erreichen.

Stufe 3: Multilevel Disintegration

Ist eine Person erst einmal auf Stufe 3 gelandet, gibt es kein Zurück mehr. Eine Reintegration auf Stufe 1 ist nun nie wieder vollständig möglich. Das Individuum erhält ein stärkeres Bewusstsein darüber, was ist, im Gegensatz dazu, was sein könnte. Der Idealismus nimmt klarere Formen an und wird zu einem wesentlichen Bestandteil des Erlebens einer Person.

Auf dieser Stufe beginnen Individuen bewusst an der Integration ihrer Persönlichkeit zu arbeiten. Es treten verstärkte Anzeichen für Selbstreflexion, Kreativität und moralische Sensibilität auf. Individuen setzen sich aktiv mit ihren inneren Konflikten und moralischen Dilemmata auseinander und suchen nach Möglichkeiten, ihre Werte und Überzeugungen zu festigen.

Zu der Frage auf Stufe 2 „Wer bin ich eigentlich“ gesellt sich eine weitere Aufgabe: Herauszufinden, wer man eigentlich sein möchte. Dabei sehnt sich die Person danach, sich selbst in einer tiefen Authentizität zu leben.

Unilevel vs. Multilevel

Die Spannung zwischen „was ist“ zu „was sein könnte“ lässt eine Hierarchisierung der Werte entstehen, die auf Stufe 2 noch nicht so klar zum Vorschein kommt. 

Das ist der Unterschied von unilevel zu multilevel. Unilevel können wir uns so vorstellen, dass jemand immer um einen Berg herumgeht, um eine Lösung zu suchen, während die Lösung auf der Bergspitze liegt. Jemand der sich in der Multilevel Disintegration befindet, macht sich auf den Weg, diesen Berg zu erklimmen. 

Noch konkreter ausgedrückt: Menschen auf Stufe 2 suchen die Lösung im Außen, während Menschen ab Stufe 3 ihren Blick nach innen wenden.

Jemand auf Stufe 2 geht um den Berg herum, anstatt ihn zu erklimmen. Anders ausgedrückt: Er sucht die Lösung im Außen, statt nach innen zu horchen.
Jemand auf Stufe 2 geht um den Berg herum, anstatt ihn zu erklimmen. Anders ausgedrückt: Er sucht die Lösung im Außen, statt nach innen zu horchen.

Eine Person auf Stufe 3 nach Dabrowski ist in einem Stadium der Persönlichkeitsentwicklung, das oft als “Unabhängigkeit von sozialen Normen” bezeichnet wird. Auf dieser Stufe ist die Person in der Lage, über traditionelle gesellschaftliche Erwartungen und Normen hinauszugehen. Sie zeigt ein starkes Streben nach Autonomie und persönlicher Authentizität.

Eine Person auf Stufe 3 kann dazu neigen, sich von konventionellen Werten und Routinen zu lösen, um ihre eigenen Überzeugungen und Ideale zu erkunden und zu entwickeln. Sie hinterfragt kritisch soziale Normen und sucht nach einem tieferen Verständnis von sich selbst und ihrer Umgebung. Diese Person kann ein hohes Maß an innerer Spannung und Unzufriedenheit mit den bestehenden Strukturen und Konventionen erleben, während sie nach einem erfüllenderen und authentischeren Lebensweg strebt.

In dieser Phase können kreative und originelle Gedanken sowie ein starkes Gefühl der Individualität und Selbstbestimmung ausgeprägt sein. Die Person kann sich bemühen, ihre eigenen moralischen Prinzipien und Werte zu definieren und zu leben, unabhängig von gesellschaftlich akzeptierten Normen. Es ist möglich, dass sie sich in einem ständigen Prozess der Selbstreflexion und persönlichen Entwicklung befindet, während sie nach einem tieferen Sinn und Zweck in ihrem Leben sucht.

Es ist wichtig anzumerken, dass die Entwicklung auf Stufe 3 auch mit Herausforderungen verbunden sein kann, da die Person möglicherweise mit Widerstand aus ihrem sozialen Umfeld konfrontiert wird und sich in einem Zustand der Unsicherheit und des inneren Konflikts befindet, während sie nach einem neuen Gleichgewicht sucht.

Individuen auf Stufe 3 haben dabei aber gewiss kein leichtes Leben. Sie sind extrem selbstreflektiert, doch ihnen fehlen noch die Milde und das Selbstmitgefühl einer Person auf Stufe 4.

Merkmale einer Person auf Stufe 3

  • ist nicht so, wie sie gerne sein würde

  • lehnt sich ab aufgrund der eigenen Unzulänglichkeiten (auf einer frühen Stufe 3 lehnt sie womöglich aber erst einmal stärker andere ab als sich selbst)

  • empfindet Ärger darüber, dass sie ihr eigenes Potenzial nicht verwirklicht

  • hat Schamgefühle hinsichtlich des eigenen moralischen Standards und wie andere einen sehen

  • will das Leben in die richtige Richtung lenken

Ein Individuum auf Stufe 3 leidet unter der Diskrepanz zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte. Auch in Bezug auf die eigene Person.
Ein Individuum auf Stufe 3 leidet unter der Diskrepanz zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte. Auch in Bezug auf die eigene Person.

Späte Stufe 3 - Übergang zu Stufe 4

Eine Person in der späten Stufe 3, die sich auf den Übergang zur Stufe 4 vorbereitet, zeigt in der Regel bereits fortgeschrittene Merkmale der Persönlichkeitsentwicklung gemäß Dabrowskis Theorie. Auf Stufe 3 hat die Person eine beträchtliche Unabhängigkeit von sozialen Normen erreicht und strebt nach persönlicher Authentizität und Autonomie.

Im Übergang zur Stufe 4 entwickelt die Person ein tieferes Verständnis für moralische und ethische Fragen sowie ein starkes Engagement für soziale Gerechtigkeit und das Wohl anderer. Sie beginnt, ihre individuellen Fähigkeiten und Ressourcen bewusst einzusetzen, um einen positiven Einfluss auf ihre Umgebung und die Gesellschaft als Ganzes auszuüben.

Charakteristisch für diesen Übergang ist eine erhöhte Sensibilität für die Bedürfnisse anderer und ein starkes Mitgefühl für die Welt um sie herum. Die Person erkennt die Komplexität der menschlichen Natur und ist bereit, sich mit den unterschiedlichen Perspektiven und Lebenserfahrungen anderer auseinanderzusetzen. Sie strebt danach, harmonische Beziehungen aufzubauen und eine Atmosphäre des Vertrauens und der Zusammenarbeit zu schaffen.

Während dieser Übergangsphase kann die Person beginnen, eine aktive Rolle in der Förderung von sozialem Wandel und positiven Veränderungen einzunehmen. Sie setzt sich für die Prinzipien der Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenwürde ein und bemüht sich um konkrete Maßnahmen, um diese Werte in ihrer unmittelbaren Umgebung und darüber hinaus zu fördern.

Der Übergang von Stufe 3 zu Stufe 4 ist oft mit einem tieferen Maß an Selbsttranszendenz verbunden, bei dem die Person ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zunehmend in den Dienst einer größeren gemeinsamen Vision stellt. Sie sind bereit, persönliche Opfer zu bringen und sich für das Wohl anderer einzusetzen, selbst wenn dies bedeutet, sich gegen gesellschaftliche Konventionen oder Normen zu stellen.

Insgesamt ist der Übergang zur Stufe 4 ein Prozess der inneren Transformation und des Wachstums, bei dem die Person eine zunehmende Integration von Selbst, Gemeinschaft und universellen Werten erfährt. Es ist ein Zeichen für einen tiefgreifenden Sinn für Verantwortung und Engagement für das Wohl der Menschheit und eine stärkere Verbundenheit mit dem größeren Ganzen.

Stufe 4: Organized Multilevel Disintegration

Auf Stufe 4 kommt im Gegensatz zu Stufe 3 noch der Begriff „organisiert“ dazu. Im Gegensatz zu den vorherigen Stufen, auf denen die Desintegration oft chaotisch und ungerichtet erscheint, ist die Desintegration auf Stufe 4 organisiert und strukturiert.

Das bedeutet, dass die inneren Konflikte und Spannungen bewusster wahrgenommen und aktiv in Angriff genommen werden. Individuen auf Stufe 4 setzen sich intensiv mit ihrem eigenen Denken, Fühlen und Handeln auseinander. Sie reflektieren über ihre inneren Motivationen, moralischen Prinzipien und existenziellen Fragen und hinterfragen aktiv ihre bisherigen Annahmen und Überzeugungen.

Trotz der starken inneren Konflikte und Spannungen auf dieser Stufe streben Individuen nach einer höheren Form der Integration, die auf authentischen Werten, einem tieferen Verständnis von sich selbst und einem erweiterten Sinn für Moral und Sinn im Leben beruht.

Die Person ist immer mehr in der Lage, ihre Ideale und Wertvorstellungen auch wirklich zu leben. Sie ist noch mitfühlender auf den früheren Stufen und hat möglicherweise bereits erkannt, dass die Trennung zwischen den Menschen eine Illusion ist. Sie fühlt sich zutiefst verbunden, auch wenn diese Phasen immer wieder von Krisensituationen unterbrochen werden können.

Sie übernimmt ein hohes Maß an Verantwortung und lebt ihre Werte aktiv aus. Ihr Erleben ist von einem tiefen Mitgefühl sich selbst und anderen gegenüber geprägt. Niedere Instinkte in sich selbst lehnt sie ab, ohne sich dafür selbst zu beschämen. Sie hat erkannt, dass sie dann den größten Wert für die Menschheit erbringt, wenn sie mit sich selbst gleichsam liebevoll wie diszipliniert umgeht.

Während eine Person auf Stufe 3 sich von sozialen Normen löst und nach persönlicher Autonomie strebt, geht eine Person auf Stufe 4 darüber hinaus und integriert diese Autonomie in ein höheres Verständnis von sozialer Verantwortung und moralischer Entwicklung.

Soziale Konventionen schränken sie nicht ein. Da ihr Weg von Mitgefühl und Liebe beleuchtet ist, versucht sie aber allen Menschen respekt- und liebevoll zu begegnen. Damit ist sie sehr deutlich abzugrenzen von Menschen auf der Substufe 1 Psychopathie, die sich zwar auch nicht unbedingt an soziale Konventionen halten, aber dafür auch an keine höheren Moralvorstellungen.

Dahingegen zeigt eine Person auf Stufe 4 ein tiefes Verständnis für die Komplexität der menschlichen Natur und kann Mitgefühl und Verständnis für unterschiedliche Lebensperspektiven aufbringen.

 

Eine Person auf Stufe 4 befindet sich in dem Prozess der Selbstaktualisierung
Eine Person auf Stufe 4 befindet sich in dem Prozess der Selbstaktualisierung und verwirklicht immer mehr die eigenen Ideale.

Personen auf Stufe 4 verfügen über ein hohes Selbstwertgefühl, haben viel Energie, agieren sehr autonom, handeln aus Liebe und Mitgefühl und versuchen, durch ihr Handeln eine positiven Einfluss zu erbringen.

Sie befinden sich im Prozess der Selbstaktualisierung, das heißt sie entwickeln sich systematisch und organisiert dahin, eine selbstgewählte Persönlichkeit zu leben. Aus der Individualität wird nun eine Persönlichkeit.

Merkmale einer Person auf Stufe 4

  • übernimmt Verantwortung für das eigene Leben (Regisseur des Lebens)
  • verfügt über ein hohes Maß an Selbststeuerung, Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein
  • entfaltet immer mehr eigenes Potenzial
  • Ziele und Aufgaben werden für sich selbst gesetzt
  • entfaltet die selbstgewählten Persönlichkeit
  • bringt ein hohes Maß an Bewusstheit mit
  • ist immer mehr in der Lage, die eigenen Werte aktiv zu leben
  • kann externe Konflikte aktiv angehen und aushalten -> Klarheit über die eigenen Werte
  • kann externe Fakten und Umstände akzeptieren
  • akzeptiert sich selbst und kann sich annehmen
  • kann sich selbst kontrollieren und verfügt über ein hohes Maß an Disziplin
  • geht zuversichtlich an die Zukunft heran
  • schaut sich verdrängte Gefühle aktiv an und kann sich selbst heilen
  • weiß, dass die “Perfektion” noch nicht erreicht ist, kann diesen Umstand annehmen
  • ist mitfühlend, sich selbst und anderen gegenüber
  • fühlt sich mit anderen verbunden
  • verfügt über ein hohes Selbstwertgefühl
  • ist fähig zur Autopsychotherapie

Eine Person, die Stufe 4 verwirklicht hat, befindet sich auf dem Gipfel des Berges. Doch wie Susan Daniels und Michael Piechowski (der lange mit Dabrowski zusammenarbeitete) in ihrem Buch „Living with Intensity“ schreiben: „The top of the mountain is the ground floor of a universe of higher consciousness“ (Daniels&Piechowski, 2008, S. 27). Sinngemäß übersetzt: Der Gipfel des Berges ist der Anfang eines Universums höheren Bewusstseins.

Spätestens hier wird klar, dass es sich bei der Persönlichkeitsentwicklung nach Dabrowski auch oftmals um eine spirituelle Entwicklung handelt.

Level 5: Secondary Integration – Highly Advanced Multilevel Development

Stufe 5 markiert die höchste Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. Wobei ab hier nach oben keine Grenzen mehr gesetzt sind.

I was not far down the spiritual road then I became acquainted with what the psychologists refer to as ego and conscience, which I call the lower self and the higher self, or the self-centered nature and the God-centered nature. It’s as though we have two selves or natures or two wills with two contrary viewpoints.“ Peace Pilgrim, 1994, S. 8.

Sinngemäß übersetzt: “Ich war auf dem spirituellen Weg noch nicht weit fortgeschritten, als ich mit dem vertraut wurde, was die Psychologen als Ego und Gewissen bezeichnen, was ich das niedere Selbst und das höhere Selbst oder die egozentrierte Natur und die gottzentrierte Natur nenne. Es ist, als ob wir zwei Selbst oder Naturen hätten oder zwei Willen mit zwei gegensätzlichen Standpunkten.”

Aus diesem Text von Peace Pilgrim, die 28 Jahre ihres Lebens durch die USA pilgerte, um mit den Menschen über Frieden zu sprechen, wird der gesamte Inhalt der TPD deutlich: Es geht darum, aus der selbstzentrierten Natur, die von Angst, Gier und materiellen Bedürfnissen geleitet wird, in eine gottzentrierte Natur zu wachsen, die auf altruistische Handlungen ausgerichtet ist.

 

Allerdings sei an dieser Stelle erwähnt: Man kann den Prozess nicht überspringen oder Abkürzungen nehmen. Gerade hochsensible Menschen neigen mitunter zu Selbstlosigkeit und altruistischem Verhalten, während sie ihre eigenen Bedürfnisse vergessen. Das ist nicht gut! Es geht auch nicht darum, auf Krampf die eigenen Bedürfnisse zu reduzieren, in der Hoffnung, dass dann dort irgendwo Glück und Erleuchtung warten. Gehe deinen Weg. In deinem Tempo. Achte auf dich und auf das, was du brauchst. Lerne aus deinen Erfahrungen und schaue, was dir wirklich wahres Glück bringt und was nur die kurzfristige (Ersatz-)Befriedigung deiner Bedürfnisse.

Ein Mensch auf Stufe 5 nach Dąbrowskis Theory of Positive Disintegration (TPD) hat ein Höchstmaß an persönlicher Autonomie, Selbstverwirklichung und moralischer Sensibilität erreicht. Diese Stufe, die als “Zweite Integration” bezeichnet wird, repräsentiert den Gipfel der persönlichen Entwicklung und des Bewusstseins.

Individuen auf Stufe 5 haben eine umfassende Selbstintegration erreicht. Sie haben ihre inneren Konflikte auf einer höheren Ebene integriert und ein tiefes Verständnis für sich selbst und ihre Beziehung zur Welt entwickelt. Sie zeichnen sich durch eine hohe moralische Sensibilität und Integrität aus. Sie leben nicht nur nach ihren ethischen Prinzipien, sondern sie verkörpern diese Prinzipien in ihrem täglichen Leben und Handeln.

Ihre Selbstreflexion setzen sie auf einem fortgeschrittenen Niveau fort. Sie haben nicht nur ein starkes Verständnis für ihre eigenen Stärken und Schwächen, sondern sie haben auch eine tiefe Selbstakzeptanz und Selbstliebe entwickelt. Auf Stufe 5 suchen Menschen nach einem tieferen Sinn und Zweck in ihrem Leben. Sie haben nicht nur eine klare Vorstellung von ihrem persönlichen Sinn, sondern sie leben auch konsequent danach und streben nach Bedeutung und Erfüllung in allem, was sie tun.

Sie sind in der Lage, über sich selbst hinauszugehen und eine tiefere Verbindung zur Welt und zu anderen Menschen herzustellen. Sie zeigen Mitgefühl und Empathie für die Erfahrungen anderer und engagieren sich aktiv für das Wohl anderer Menschen und der Gesellschaft.

Das, wofür auf Stufe 4 der Grundstein gelegt wurde, ist auf Stufe 5 nun vollständig verwirklicht.

Innerer Frieden ist erreicht, doch nicht das Ende der inneren Entwicklung – diese geht immer weiter!

Bekannte Persönlichkeiten auf dieser Stufe sind z. B. Jesus, Siddhartha Gautama, Mahatma Gandhi (in seinen späteren Jahren), Peace Pilgrim, Etty Hillesum, der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, Mutter Theresa, Nelson Mandela und der Dalai Lama. Allerdings sind nicht alle Personen auf Stufe 5 solche, die im Rampenlicht stehen. Auch “normale” Menschen in unserer Mitte können diese besondere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung erreichen.

Hochsensibilität und Hochbegabung: Krise als Chance

Die “Theory of Positive Disintegration” betont die Bedeutung von inneren Konflikten und Krisen als treibende Kräfte für persönliches Wachstum und Entwicklung.

Ein Hoffnungsgeber für hochsensible und hochbegabte Menschen, die in ihrem Leben schwierige Erfahrungen machen mussten. 

“Sind Menschen mit Overexcitabilities leichter traumatisierbar?” ist eine Frage, die der Traumatherapeutin Patty Williams beim Dabrowskikongress 2022 gefragt wurde. “Now as far as your experiencing of trauma – you know, qualitatively different and maybe one experience that’s not traumatic for me you go through it in the same way, it could be traumatic for you. I tend to believe with overexcitabilities: That is true, you’re experiencing of a situation may allow to feel and be more traumatic. Now, and we won’t go too far into this, the question I ask you then is this: Does that increase your possibility for post-traumatic growth? You are able to go more deeply into the experiencing of a difficulty. Are you therefore increasingly capable of growing from it? Good question, right? […] So yeah, I think you experience it more.” Patty Williams (2022). Minute 49:39. Trauma and Giftedness, a Unique Intersecion. Dabrowski Kongress.

“Nun, was das Erleben von Trauma betrifft – ihr wisst schon, qualitativ anders und vielleicht ist eine Erfahrung, die für mich nicht traumatisch ist, für euch aber schon traumatisch. Ich neige dazu zu glauben, dass Overexcitabilities dazu führen können, dass ihr eine Situation als traumatischer empfindet. Nun, und wir werden nicht zu weit in diese Richtung gehen, die Frage, die ich euch dann stelle, lautet: Erhöht das eure Möglichkeit des posttraumatischen Wachstums? Ihr könnt tiefer in das Erleben einer Schwierigkeit eintauchen. Seid ihr also in der Lage, daraus zu wachsen? Gute Frage, oder? […] Also ja, ich denke, ihr erlebt es intensiver.” (Sinngemäß übersetzt von LMD). 

Menschen mit Overexcitabilities sind in der Lage, schwierige Lebenserfahrungen auf einer tieferen Ebene zu verarbeiten indem sie sich intensiv und bewusst mit den Ursachen ihrer inneren Unruhe, ihrer Ängste und Selbstzweifel auseinandersetzen. Damit können innere Konflikte und Krisen als Katalysatoren für das persönliche Wachstum dienen. Dabei kann dieses Wachstum weit über das hinausgehen, was die meisten Menschen als erreichbar betrachten. Das Ziel ist der tiefe innere Frieden und das Leben im Einklang mit der Welt.

Abschluss

„What is it in myself that is not me? What is it that I am becoming, although it is not yet crystallized?“ (Dabrowski, 2015, S. 11).

Sinngemäß übersetzt: „Was ist es in mir, das nicht ich ist? Was entwickelt sich in mir, obwohl es noch nicht vollständig geformt ist?“ Unsere Persönlichkeit schlummert bereits in uns, doch ist sie von unseren angelernten Mustern verborgen in unserer Tiefe. Um herauszufinden, was alles „nicht du“ bist, helfe ich dir mit der wissenschaftlich fundierten Potenzialanalyse. Und dann begeben wir uns auf die Reise dahin, deine wahre Persönlichkeit zu entdecken. Zu spüren, wer du wirklich bist. Deine Reise zu dir selbst.

Alles Liebe für dich.

Lisa

Anhang: Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Literatur über die TPD von Dabrowski zu erhalten, ist leider nicht ganz einfach. Die meisten Werke sind nur in englischer Sprache zu erhalten. In deutscher Sprache ist meiner Kenntnis nach nur eine Ausgabe über Dabrowski im Journal für Begabtenförderung vorhanden (das ist die Ausgabe 2/2010). 

In englischer Sprache gibt es sowohl Primär- als auch Sekundärliteratur. Die Primärliteratur wie z. B. das Werk “Personality Shaping Through Positive Disintegration” ist allerdings sehr komplex geschrieben und schwierig zu verstehen, insbesondere, wenn man sich noch nicht so gut mit Dabrowski auskennt. Selbst unter Dabrowskis Kollegen und Mitarbeitern war bekannt, dass er sich nicht gerade simpel ausdrückt ;). 

Als Sekundärliteratur empfehle ich stets gerne das Buch “Living with Intensity” von Daniels&Piechowski. In dem Werk geht es intensiv um die Overexcitabilities und wie diese sich auf das Erleben auswirken. Die TPD wird nur am Rande erwähnt. Obwohl sich das Buch in erster Linie um Kinder mit ihren OE richtet, lege ich es Erwachsenen gerne ans Herz – schließlich waren wir alle einmal Kinder. 

Ein anderes hilfreiches Buch stammt aus der Feder von Dr. Sal Mendaglio, einem renommierten Forscher und Experten auf dem Gebiet der TPD. Das Buch “Dabrowski’s Theory of Positive Disintegration”. Das Buch schafft tiefgreifende und leicht verständliche Einblicke in die TPD und ihre Auswirkungen auf das tägliche Leben.

Um die höheren Stufen zu verstehen, eignet sich Literatur in Form von Biografien und Tagebucheinträgen sehr gut. Mich persönlich hat das Buch “Peace Pilgrim. Her Life and Work in Her Own Words” ganz enorm bewegt und mich auf meiner Reise weitergebracht. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass das Buch auch in deutscher Sprache abgedruckt ist, z. B. hier: Die Friedenspilgerin.

In den Tagebüchern der Etty Hillesum “Das denkende Herz” bekommt man die Geschichte von Etty, einer jungen Jüdin mit, die zu Zeiten des zweiten Weltkriegs lebte und in Auschwitz ermordet wurde. Ihre Tagebücher sind ein unglaubliches Zeugnis einer Person, die mit unter dreißig Lebensjahren innerhalb kürzester Zeit von der Stufe 3 über Stufe 4 auf Stufe 5 integrierte und damit die höchsten menschlichen Ideale verkörperte.

Für Politikinteressierte und spirituell Suchende besonders interessant dürfte das Tagebuch “Zeichen am Weg” von Dag Hammarskjöld sein, dem ehemaligen UN-Generalsekretär, der seine Aufgabe als Dienst an der Menschheit auffasste. 

Anmerkung: Das sind keine Affiliate-Links, ich verdiene nichts daran, dass ich die Bücher verlinke und wähle bewusst unterschiedliche Shops für die Bücher aus. Viele der Bücher sind außerdem sehr gut gebraucht erhältlich. 

Literatur:
Dabrowski, Kazimierz (2015). Personality Shaping Through Positive Disintegration. Red Pill Press
Dabrowski, Kazimierz (2016). Positive Disintegration. Maurice Bassett.
Daniels, Susan; Piechowski, Michael M. (2008). Living with Intensity. Great Potential Press
Mendaglio, Sal (2008). Dabrowski’s Theory of Positive Disintegration. Great Potential Press.
Mönks, Franz-J., Rogalla, Marion (2010). Journal für Begabtenförderung. Sensitivität nach Dabrowski. 02/2010
Peace Pilgrim (1994). Her Life and Work in Her Own Words (2. Aufl.). Ocean Tree Books.

Literaturverzeichnis

Weitere Ressourcen (alle in englischer Sprache):
Williams, Patty (2022). Trauma and Giftedness, a Unique Intersecion. Dabrowski Kongress.
YouTube-Kanal vom Dabrowski-Center
Website von Dabrowskis ehemaligem Schüler Bill Tillier positivedisintegration.com

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