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Der Wald als Symbolbild für Hochsensibilität. Hochsensible tanken am besten in der Natur auf.

Hochsensibilität bzw. Hochsensitivität bezeichnet die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen aus der Umgebung und aus dem Körperinneren. Hochsensible Menschen nehmen Sinneseindrücke und Emotionen intensiver wahr und verarbeiten sie tiefer als nicht hochsensible Menschen.

Während Hochsensibilität kein neues Phänomen ist, wurde es allerdings erst in den 90er Jahren von der US-amerikanischen Psychologen Elaine Aron in die Mitte der Gesellschaft gebracht. Sie prägte den Begriff „sensory processing sensitivity“, was wörtlich übersetzt „sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit“ bedeutet. Diese Begriffsbestimmung ist wichtig, denn anders, als oftmals angenommen, ist Hochsensibilität nicht mit einer erhöhten Vulnerabilität gleichzusetzen (schaue hierzu gerne: Mythen rund um Hochsensibilität).

Etwa 15-20 % der Bevölkerung sind laut Aron (2015) hochsensibel, wobei es sich neueren Untersuchungen zu Folge bei der Hochsensibilität vermutlich um ein Spektrum handelt, d. h. es gibt in der Bevölkerung besonders stark sensitive Menschen (ca. 30 %), mittelmäßig sensitive Menschen (ca. 40 %) und geringsensitive Menschen (ca. 30 %) (Wyrsch, 2020).

Hochsensibilität durchzieht das gesamte Erleben

Hochsensibilität ist eine Wahrnehmungsbegabung. Sie ist ein angeborenes und unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal, das sich durch das gesamte Erleben eines Menschen zieht. Ein hochsensibler Mensch erlebt alles durch die Brille der Hochsensibilität – er kann nicht wahrnehmen, wie ein nichtsensibler Mensch.

Die gesamte Eigenart ist das Instrument, auf dem der Sensible die Melodie des Lebens zu spielen hat“
Eduard Schweingruber; zitiert nach Reichardt (2016, S.34)

Vier Kategorien der Hochsensibilität:

Nach Elaine Aron (2014) müssen zum Erkennen einer Hochsensibilität vier Kategorien vorliegen:

1. Sensorische Intensität:

Eine erhöhte Sensibilität auf Sinnesreize, die über die fünf Sinnesorgane (sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen) und die Tiefensensibilität, die erhöhte Empfindlichkeit für Vorgänge im Körperinneren, empfangen werden. Sensorisch sehr intensive Menschen können Dinge hören, die anderen entgehen (z. B. das Summen einer Stromleitung) und neigen, insbesondere unter Stress, dazu, von sensorischen Reizen überstimuliert zu werden.

Wichtig ist daher für sensorisch sehr sensitive Menschen, dass sie sich genügend reizarme Rückzugsorte schaffen und unter Stress besonderes Augenmerk darauf legen sich vor zu starken Reizen zu schützen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass einfache Methoden zur Stressregulation, wie z. B. Atemübungen schon dabei helfen können, kurzfristige sensorische Überreizung zu minimieren (wenngleich diese Übungen nicht ersetzen, sich das Leben angepasst an die Hochsensibilität einzurichten).

2. Emotionale Intensität:

Hochsensible Menschen sind emotional reaktiv, was bedeutet, dass sie intensiver, tiefer und stärker auf emotionale Reize reagieren. Wichtig hierbei ist die Abgrenzung zu Traumata: Während traumatisierte Menschen stark auf negative Reize reagieren, reagieren Hochsensible generell stark auf alle Reize, sowohl die positiven als auch die negativen (Aron, 2014). Sie verfügen über eine erhöhte emotionale Reaktionsspanne im Vergleich zu weniger sensiblen Menschen.

Hochsensible verfügen über ein breiteres Wahrnehmungsspektrum als normalsensible Menschen.
Hochsensible verfügen über ein breiteres Wahrnehmungsspektrum als normalsensible Menschen.

Hervorzuheben sind hierbei die vantagesensitiven Menschen, die hochsensibel sind und eine gute Resilienz mitbringen, gleichzeitig stark auf positive Reize reagieren. Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit einer erhöhten Vulnerabilität bzw. Neurotizismus (Aron, 2014).

Emotionale Reaktivität bedeutet außerdem, dass Hochsensible auch stärker auf die Emotionen anderer Menschen reagieren und stark mitschwingen können. Das kann sich in einer erhöhten Empathie zeigen (jedoch ist die Fähigkeit zur Empathie nicht nur von der Hochsensibilität abhängig. Die Fähigkeit zur Empathie ist weiterhin davon abhängig, wie wir aufgewachsen sind, wie gut wir mit unseren eigenen Emotionen umgehen können, wie emotional intelligent wir sind und schließlich, ob wir selbst uns womöglich gerade in akuten Stresssituationen befinden).

3. Gründliche Informationsverarbeitung:

Hochsensible verarbeiten auch kognitive Informationen intensiver und tiefer als nicht hochsensible Menschen. Sie denken intensiv über Dinge nach und analysieren Situationen gründlich. Sie denken nach über „den Gang der Welt“, den Sinn des Lebens, ihr eigenes Leben, analysieren ihre Arbeit, denken über ihre Beziehung nach und machen sich allgemein über vieles einen Kopf.

Viele sensible Menschen sind sehr empathisch und zeigen sich betroffen vom Leid anderer, überlegen dann lange, wie man die Situation ändern könnte und was sie selbst dazu beitragen können. Viele wünschen sich, etwas Gutes und Sinnvolles in ihrem Leben beizutragen, einen guten Fußabdruck mit ihrem Leben zu hinterlassen und anderen geholfen zu haben.

Abzugrenzen ist die gründliche Informationsverarbeitung von übermäßigem Grübeln, das nicht produktiv ist und immer nur im Kreis führt (wenngleich Hochsensible natürlich auch davon betroffen sein können).

Die gründliche Informationsverarbeitung kann auch unbewusst ablaufen und zeigt sich dann in Ahnungen, Träumen sowie dem „Bauchgefühl“ (Aron, 2014) .

4. Niedrige Reizschwelle/Tendenz zur Übererregbarkeit:

Eine niedrige Reizschwelle liegt dann vor, wenn eine Person weniger Stimulation benötigt, um auf einen Reiz zu reagieren. Hochsensible reagieren bereits auf geringe Reize, was man auch so deuten kann, dass sie eine besonders feine Wahrnehmung haben (drum gefällt mir an dieser Stelle der Begriff „Wahrnehmungsbegabung“ so sehr).

Wer viele Reize wahrnimmt, muss aber auch viele Reize verarbeiten können. Insbesondere, da Hochsensible diese Reize eben auch sehr gründlich und tief verarbeiten. Sind dafür nicht die richtigen Umstände ergeben, kann dies zu einer Überstimulation führen: „Es ist gerade alles zu viel“. Stresssymptome setzen ein, die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses nimmt ab, Verwirrung und ein schlechtes Erinnerungsvermögen können eintreten (Aron, 2014).

In diesem Stadium ist es besonders wichtig, sich genug Auszeiten zu nehmen und/oder sich jemanden zu suchen, der einem bei der Verarbeitung bestimmter Reize helfen kann (z. B. eine gute Freundin oder eine psychologische Fachperson).

Hochsensibilität ist keine Krankheit

Hochsensibilität ist keine Diagnose und hat keinen Krankheitswert. Es handelt sich dabei um eine normale Variante der Persönlichkeit eines Menschen. Während die Hochsensibilität für manche Menschen eine Bürde darstellt, so kann man lernen damit gut umzugehen. Dann wird aus dem Fluch ein Segen, denn eine Hochsensibilität kann das eigene Leben enorm bereichern.

Interessanterweise kann eine Hochsensibilität sogar ein enormer Vorteil für sich selbst und für andere sein. So stellte der Wirtschaftswissenschaftler Patrice Wyrsch (2020) fest, dass sowohl generell-sensitive Menschen (also “normale” hochsensible Menschen, die sowohl stark auf negative als auch stark auf positive Reize reagieren) als auch vantage-sensitive Menschen (jene, die besonders stark auf positive Reize und normal auf negative Reize reagieren) die beste Performance im Arbeitskontext zeigten! Arbeitgeber tun sich also gut daran, in hochsensible Menschen zu investieren.

Erhöhte Sensibilität als Entwicklungspotenzial

Übrigens: Elaine Aron ist nicht die einzige, die sich Gedanken zu Hochsensibilität gemacht hat. Schau dir hier an, was der polnische Arzt, Psychiater und Psychologe Kazimierz Dabrowski zu Hochsensibilität herausgefunden hat “Merkmale Hochsensibilität+Hochbegabung nach Dabrowski” und warum Hochsensibilität ein Entwicklungspotenzial ist.

 

Literatur:

Aron, Elaine (2014): Hochsensible Menschen in der Psychotherapie. Junfermann.
Aron, Elaine (2015): Sind Sie hochsensibel? (10. Aufl.). Münchner Verlagsgruppe GmbH.
Reichardt, Eliane (2016). Hochsensibel. Irisiana.
Wyrsch, Patrice (2020). Neurosensitivität. Die Kraft der Hochsensitiven. Selbstveröffentlicht.

Literaturverzeichnis

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